Sobald die Shortlist des Deutschen Buchpreises bekanntgegeben ist, handelt das deutschsprachige Feuilleton frei nach der Kanzlerin: alternativlos. Auch 2014 müssen die beiden nominierten Inselgeschichten „Kruso“ (Lutz Seiler) und „Pfaueninsel“ (Thomas Hettche) besprochen werden, ebenso Heinrich Steinfests 400-Seiter „Der Allesforscher“, Gertrud Leuteneggers „Panischer Frühling“, Angelika Klüssendorfs „April“ und Thomas Melles Obdachlosenstory „3000 Euro“. Währenddessen gehen die übrigen vierzehn Bücher der Longlist unter wie ein Stein, von den nicht nominierten Romanen ganz zu schweigen. Dabei gibt es mindestens vier weitere Longlist-Bücher, die absolut preiswürdig sind.
Wir fangen an, wo auf souveräne Weise ein Stiefmutterthema der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur behandelt wird: der Unterschicht. Zwischen „Tigermilch“ von Stefanie de Velasco aus dem Vorjahr und dem aktuell schwer gehypten „Es bringen“ von Verena Güntner steht Feridun Zaimoglus Roman „Isabel“. Die verarmte Gelegenheitsschauspielerin Isabel wurde von ihrem Freund verlassen und muss nun „auf Platte“ machen. Sie zieht in eines der alten Osthochhäuser am Berliner Alexanderplatz, lebt dort zwischen irren Weibern, die ihre Plastikpuppe säugen, Strichern, die in Kellern anschaffen und Transvestiten, die ihren gepimpten Körper als Ausstellungsfläche und Sexmaschine hergeben.
Isabel ist ständiger Gast in Suppenküchen und Kleiderkammern. Dass sie Türkin ist, wird in diesem Roman nicht mehr oder weniger wichtig genommen als ihre Größe oder ihr Musik- und Männergeschmack. Als Zaimoglu 1995 mit „Kanak Sprak“ debütierte, war das Türkische auf Sprach- und Inhaltsebene ein Skandalon in Kleinbuchstaben. Mit „Isabel“ hat er sich dem Chat-SMS-Tinder-Stil dieser Tage angenähert. Passend dazu stumpft Isabel innerlich ab und will von der Liebe nichts mehr wissen; bis sie den Soldaten Marcus kennenlernt, einen Mann, der das „Töten und Verletzen“ gernhat.
Zwei eiskalte Menschen in einer eiskalten Stadt, Feridun Zaimoglus Größe besteht darin, diese Kälte mit einer Poesie zu beschreiben, die noch aus der letzten Obdachlosen eine romantische „Flaschenpflückerin“ macht. Damit ist „Isabel“ das Gegenstück zum ebenfalls nominierten Matthias Nawrat. Der siedelt seinen zweiten Roman im FDP-Stammland Baden-Württemberg an und erzählt – im Todesjahr des politisch organisierten Liberalismus – von einem „Unternehmer“, wie es der Titel bereits ankündigt. In einer postapokalyptischen Schwarzwaldszenerie sammeln „der Vater“, Sohn Berti und die 13-jährige Tochter Lipa Elektroschrott, den sie beim Großabnehmer veräußern. Dort werden die Metalle Tantal und Wolfram in „Klimpergeld“ gewechselt. Dal ohne Kohle kein Leben denkbar scheint, zählen für die adoleszente Icherzählerin allein das: der Kilopreis für Wolframfolien und das ewige Schaffen, Schaffen, Schaffen. Vertändelte Schwimmbadnachmittage kommen in dieser Marktvorstellung nicht vor.
Die Schule ist Lipa suspekt, vielleicht weil sie sie nie richtig kennenlernen durfte. Denn zum einen ist sie „der Ort, an dem eine Vorbereitung auf künftige Arbeit stattfindet, zum anderen aber ist er bereits Arbeit, nur ohne erkennbaren Unternehmensprofit“. Als der Vater wegen schwerer Krankheit aus dem Kleinunternehmen ausscheidet, rückt Lipa nicht wie erhofft von ihrer Assistentenstelle in die Firmenleitung nach, sondern muss Primzahlen in der Untertertia pauken und ihrer Kameradin Sabrina beim nachmittäglichen Trampolinspringen zusehen. „Ob wir allmählich etwas anderes machen wollen, frage ich. Zum Beispiel Primzahlen lernen, Primzahlen sind wichtig. In Wahrheit, sagt Sabrina, mag sie Hausaufgaben nicht. Aber wie sie denn aus der Arbeitslosigkeit wieder rauskommen will, frage ich. Ob sie immer nur Trampolin springen will.“ Das Gerede von der „Eigenverantwortung“ überführt Nawrat auf absurd-komische Weise in die lustbefreite Ödnis. Selbst der erste Kuss geht an Lipa vorüber wie die jährliche Dividendenzahlung eines geizigen Volksaktienbesitzers.
Als Antiserum hilft mit „Das Polykrates-Syndrom“, der dritte Roman, wo die Liebe so heiß gekocht wird, dass mehrere Todesfälle zu beklagen sind. Der Klagenfurter Antonio Fian, Jahrgang 1956, erzählt in seinem zweiten Roman von einer Amour fou. Ausgerechnet der verkrachte, in beruhigender Ehe lebende Historiker und Copyshop-Mitarbeiter Arthur muss in die Kopie seiner Leidenschaften schlittern. Waren bislang nie gesendete Sketchentwürfe das Aufregendste im Leben dieses Zaudernden, gerät er nun in die Fänge der psychisch labilen Studentin Alice.
Nicht mehr jugendlicher Mann trifft jugendliche Frau – das könnte gruselig werden, man denke nur an das peinliche „Feuer brennt nicht“ von Ralf Rothmann oder etliche Alterswerke Philip Roth’. Doch Antonio Fian gelingt eine humorvoll-bittere, am Ende splatterartige Thrillergroteske, die mühelos die Genre-Gefahren umschifft. Von der beschämenden Ejaculatio praecox über die geheimnisvolle Eichhörnchenstellung bis zum unvermeidlichen Stalking durch die wahnsinnige Alice entwickelt sich dieser nur anfangs anheimelnd daherkommende Plot. Galant orientiert er sich am befürchteten Verlauf von Arthurs eingebildeter Krankheit:
„Ich nenne sie das Polykrates-Syndrom. Polykrates, Sie wissen schon, der mit dem Ring. Herodot hat von ihm erzählt, Schiller hat eine Ballade geschrieben, ‚des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil‘ und so weiter, vielleicht haben Sie sie ja auch auswendig gelernt. Dem Mann gelang einfach alles, aber er war sich seiner Sache zu sicher, er glaubte, dass das immer so weitergehen würde. Am Ende hat man ihn so grausam umgebracht, dass selbst Herodot das nicht näher beschreiben wollte. Als Polykrates-Kranker hat man dieses Schicksal immer im Kopf, man fürchtet, zu viel Glück zu haben und irgendwann dafür bestraft zu werden, darum bemüht man sich ständig, Opfer zu bringen.“– Fian gelingt ein grantelndes, im Nichts endendes Bravourstück in Thomas Bernhard’scher Manier mit herrlichen Volten gegen die Verschandelung des alten Wiens (durch Schallschutzfenster) und die possenhafte Darstellung von Sexualität in US-amerikanischen Kinofilmen. Leicht ist seine Kunst, kurz der Roman.
Ebenfalls empfehlenswert ist Ulrike Draesners „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. Neun Jahre hat die Leonce-und-Lena-Förderpreisträgerin des Jahrs 1995 (danach folgten etliche weitere Ehrungen) für ihren wissenschaftlichen Generationenroman recherchiert. Im März 2014 ist er bei Luchterhand erschienen, stand aber schnell im Schatten des Verlagskollegen Saša Stanišić. Der gewann für seinen Roman „Vor dem Fest“ den Preis der Leipziger Buchmesse, stürmte die Bestsellerlisten und wurde von Luchterhands Werbeabteilung als Spitzentitel des Frühjahrs lanciert. Dabei könnte auch Draesners 560-Seiten-Epos das Zeug sein, worauf die deutschen Verlage seit einiger Zeit mehr und mehr in stupider Hollywood-Mentalität setzen: ein Blockbuster.
Der Roman orientiert sich an Leben und Denken Ernst von Glasersfelds, dem Affenforscher, der neben Heinz von Foerster die prägendste Figur des Radikalen Konstruktivismus war, dreisprachig aufgewachsen, früh begeistert von Ludwig Wittgenstein und Sigmund Freud. In diesem weit aufgespannten Netz zwischen Sprachskepsis, Erkenntnistheorie und Psychoanalyse bewegen sich Draesners Figuren. Darunter sind ein emeritierter Verhaltensforscher, der mit seinen mehr als 80 Jahren noch einmal dem Primaten im Homo sapiens nachforschen will, seine ihn beargwöhnende Tochter, die ebenfalls die Affen erforscht, sowie ein halber Pole, der beiden hinterherrecherchiert, ein Johann Peter Eckermann der Biologie sozusagen.
Es tauchen auf: die deutsche Teilung, Flucht, Vertreibung, Bombenterror. Aber auch: Facebook, Kybernetik, ein Horror-Computerspiel und dazwischen als riesengroßes j’accuse die strenge Mahnung zu Humanität, also dem Lebenden im Allgemeinen, dem Menschlichen im Besonderen. Sieben Sprünge vom Rand der Welt kann vom Leser auf der Internetseite der-siebte-sprung.de ergänzt und weitergeschrieben werden. Er wird mutmaßlich noch gelesen und weitergeschrieben, wenn der aktuelle Gewinner des Buchpreises längst vergessen wurde.
Ulrike Draesner: „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“, Luchterhand 2014, 560 S., 21,99 Euro / Antonio Fian: „Das Polykrates-Syndrom“, Droschl, 240 S., 19 Euro / Matthias Nawrat: „Unternehmer“, 144 S., 16,95 Euro / Feridun Zaimoglu: „Isabel“ Kiepenheuer & Witsch, 242 S., 18,99 Euro