Während immer mehr gesellschaftliche Gruppen einstehen für ihr Recht auf anständige Behandlung auch im Sprachgebrauch – gibt es widerstreitende Bewegungen, die von Denkverboten, Sprachvergewaltigungen und Gedankenpolizei sprechen. Nun ist die Literatur traditionell ein Sprach- und Denklabor, ein Ort also, an dem ohne moralischen Zwang das Neue, Deviante und auch Provozierende stattfindet. Braucht die Literatur Political Correctness? Über diese Frage ist sich die Gesellschaft bislang uneins. Eine Deutschlandfunk-„Streitkultur“ von der Frankfurter Buchmesse mit Jochen Hörisch und Christian Metz. (Aufzeichnung vom 16.10.2019 / Beitragsbild: Jelina Berzkalns.)
2018 fand in Berlin unter großem Andrang eine Tagung statt zum Stand der Postkolonialen Theorie. Dort sagte die Soziologin Zethu Matebenis, dass sie als schwarze lesbische Frau in Südafrika kaum Safe Spaces findet und deshalb weiterhin eine Distanz zwischen sich und ihrer Kultur spürt. Könnte es sein, dass „Political Correctness“ in der Literatur problematisch, in der Literaturszene selbst jedoch wünschenswert wäre?
Führt Identitätspolitik zur Auflösung des sozialen Zusammenhalts? Oder anders gefragt: steht die Suche nach Mikroaggressionen im Gegensatz zu echten Veränderungen des politisch-kapitalistischen Systems? Immerhin ist die Identitätspolitik 2019 endgültig auch in der Literaturkritik angekommen. Debatten beispielsweise um den als feministisch verkauften Roman „Miroloi“ von Karen Köhler oder um Petra Hartlieb, Jurymitglied des Deutschen Buchpreises, die sich vor Verleihung problematisch geäußert hatten führten schnell zu dem Vorwurf, hier kritisierten alte, weiße, männliche Kritiker wie seit jeher das Schreiben und Handeln von ohnehin marginalisierten Frauen – aus rein misogynem Ressentiment.
Der emeritierte Professor für Medientheorie Wolfgang Ullrich schrieb im Februar 2018 für die Kunstzeitschrift ART und nannte da den sogenannten Shitstorm als neue Art des Verrisses. Und mit Peter Handke gibt es einen aktuellen Streitfall, den der Philosoph Daniel-Pascal Zorn bei Twitter unter anderem dergestalt zu entzerren sucht: „Man kann Handke also als Schriftsteller toll oder doof finden und kann zugleich seine Handlungen verurteilen oder verteidigen, ohne dass sich daraus ein Konflikt der Ebenen ergibt. Hinsichtenunterscheidung, Begrenzung des eigenen Aussageanspruchs und seiner Extension.“
Die Streitkultur
Jan Drees: Jochen Hörisch, Jahrgang 1951, ist Seniorprofessor für deutsche Literaturwissenschaft und Medienanalyse an der Universität Mannheim – und er ist regelmäßig im Deutschlandfunk-Programm vertreten, vor allem in „Kultur heute“ und dem „Büchermarkt“. Aktuell arbeitet er an einem 2020 bei Hanser München erscheinenden Buch über Goethe und die Hand. Herr Hörisch – ihr Standpunkt zum Thema bitte.
Jochen Hörisch: Die Literatur kann von Vornherein als System gar nicht politisch korrekt sein. Literatur ist durch und durch inkorrekt; nicht, weil sie frauenfeindlich ist, rassistisch, antisemitisch, für den Krieg und dergleichen mehr, sondern weil sie mit System lügt. Das wissen schon Hesiod und Platon. Wir haben das eigentümliche Phänomen, dass sich komplexe Gesellschaften, die keine Zensur kennen, ein System halten, in dem systematisch Geschichten erfunden werden, von denen jeder weiß, dass sie nicht stimmen. Die Dichter lügen. Und die Lüge ist natürlich die Ur-Figur der Political Incorrectness.
Wenn wir die nicht ernst nehmen, diese Lizenz, dann kommen wir, denke ich, in Teufels Küche. Das soll einfach heißen: literarische Sätze sind negationsimmun. Ich kann nicht zum Buchhändler gehen und sagen: „Nehmen Sie mal den Roman zurück, Effie Briest hat sich doch gar nicht in jungen Jahren umgebracht, die ist doch 98 Jahre alt geworden.“ Dann sagt der Buchhändler zu mir zu Recht: „Das ist eine politisch inkorrekte Geschichte, die da erzählt wird, aber das ist eine in sich stimmige Geschichte. Sie wissen nicht, junger Mann – oder in meinem Fall alter weißer Mann, was ein Roman ist. Ein Roman lügt. Er hat nicht den Anspruch, dass er wahre Geschichten erzählt. Das ist die Basis, auf der die weiteren systematischen Verletzungen von Korrektheitsansprüchen durch Literatur erfolgen. Literatur ist systematisch ein inkorrekter Anschlag auf unsere mentale, kognitive und psychische Integrität, und das ist auch gut so.
JD: Vielen Dank, Jochen Hörisch. Mit Ihnen wird Christian Metz streiten, Jahrgang 1975. Er ist Literaturwissenschaftler und Kritiker. Christian Metz habilitierte mit der Arbeit „Kitzel. Studien zur Kultur einer menschlichen Empfindung“ und er veröffentlichte 2018 das viel diskutierte, bei S. Fischer erschienene Buch „Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart“. – Weshalb würden Sie Ihrem Gesprächspartner in verschiedenen Punkten widersprechen? Ihr Statement.
Christian Metz: Ich würde Ihnen gar nicht widersprechen als Erstes, sondern ich würde als Erstes sagen, dass das, was Sie ausgeführt haben, überhaupt nicht geht. Nehmen wir ein einziges Beispiel, nämlich solche Begriffe wie „das Triggern“. Triggern kommt aus der Traumatheorie, und kommt überhaupt erst in den Diskurs über Literatur durch eine Szene an der Columbia University in New York City, nämlich in dem Moment, wo Ovid dort besprochen wird, und es dort immer wieder um Vergewaltigungsszenen geht, und eine Person in diesem Seminar sitzt, die durch dieses plötzliche Auftauchen der Vergewaltigungsszenen wieder an ihre eigene Vergewaltigungssituation erinnert wird.
Dieses Mädchen kann nicht sprechen in dem Moment, sie zittert, und sie muss sich danach von ihrem Dozenten sagen lassen: „Na, so geht das aber nicht.“ Und sie bekommt eine schlechte Note. Das ist der Moment, in dem in einem Machtraum des Sprechens über Literatur tatsächlich die Frage aufkommt: Wenn man mit so etwas umzugehen hat in einer solchen Situation gegenüber jemandem, was man nicht voraussehen kann, dann ist es eine Sache, eine allgemeine Warnung vorweg zu sagen, um genau diese Situation abzudämpfen, und an diese Möglichkeit zu denken, dass es vielleicht jemand anderen in einer Art und Weise berühren könnte, die für einen selbst erstmal nicht infrage kommt.“
J.D.: Vielen Dank Christian Metz. Zur Definition: Der Begriff politisch korrekt wurde bereits 1793 in einem Gerichtsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten erwähnt. Damals wurde festgestellt, es sei politisch nicht korrekt, einen Toast auf den Staat statt auf das Volk auszubringen, weil der Staat zwar das edelste Werk des Menschen, der Mensch selbst aber das edelste Werk Gottes sei. Seit Mitte der 1980er Jahren begann dann eine Renaissance der politischen Korrektheit, ausgehend vor allem von Studierenden der University of California, die sich auflehnten gegen Pflichtkurse über die westliche Zivilisation. Die Studenten forderten, dass nicht nur die Werke alter weißer Männer, sondern auch Minderheiten im akademischen Diskurs beobachtet werden. – Es gibt in den USA inzwischen Spezialistinnen, sogenannte Sensitive Readers, die Romane oder Serien vor der Veröffentlichung nach möglichen Mikroaggressionen untersuchen. In deutschen Verlagen – anders als es die kurz virulente Legende glauben machen wollte, werden diese Sensitive Readers bislang nicht eingesetzt. Dennoch: Befinden wir uns auf dem Weg zum Neusprech aus George Orwells dystopischem Roman „1984“?
J.H.: Leider eindeutig ja. Ich glaube feststellen zu können, dass jede vernünftige Revolution Gefahr läuft, jakobinisch oder stalinistisch zu werden. Alle Sympathien für die Französische Revolution 1789, war klasse – erschreckend aber, wie schnell die Jakobiner drankommen. Alle Sympathie für die antizaristische Revolution 1917 in Petersburg. Dass es dann eine Entwicklung hin zu Stalin geben würde; das will ich in aller Schärfe sagen, dass ich die Wahrnehmung habe, dass die Grundintuition weg ist, mit der für mich Sprachreglementierung heißt: Joseph Goebbels. Der hat eine Sprachreglementierung vorgegeben, so müsst ihr sprechen, wenn ihr im öffentlichen Raum sprecht. Sprachreglementierung heißt: DDR. Man durfte nicht Mauer sagen, sondern es war der „Antifaschistische Schutzwall“.
Dass diese überwältigende Grundintuition weg ist, dass Sprachreglementierungen, so wie Orwell sie beschrieben hat, des Teufels sind, und aus einer rechten, aus einer diktatorischen, aus einer totalitären Ecke kommt, macht mich auf meine alten Tage ganz ratlos. Auch die Paradoxien, in die sich Political Correctness verwickelt, ist deutlich. Wir sind im Radio, also muss ich beschreiben, wie ich aussehe: übergewichtig, weißhaarig, nicht mehr ganz jung und frisch – und ein Mann. Also, vor Ihnen sitzt ein alter, weißer Mann. Da kann ich nun nichts für. Soll ich denn Blackfacing machen, damit ich schwarz bin? Nein. Das wäre ja noch inkorreter. Dass ich alt bin, kann ich auch nicht ändern. Es ist sozusagen der rassistische Vorwurf schlechthin. Das sind biologische Daten, alt und weiß zu sein.
Dass es Political-Correctness-Leute ohne Tränen in den Augen zu haben darüber, wie objektiv komisch sie sind, sich zu Polemiken rassistischer Art gegen alte, weiße Männer, weil sie alt und weiß sind, versteigen, ist für mich so eine schreiende Paradoxie. Ich möchte einfach nur sagen: es ist eine – Entschuldigung, ich drücke mich sonst nicht so unakademisch aus: eine unglaubliche Idiotie. Man stellt sich da selbst Beine. Das kann man nicht ernsthaft wollen. Literatur muss inkorrekt sein.
J.D.: Idiotie, auch über diesen Begriff des Idioten wurde schon diskutiert. Christian Metz, man sieht Ihnen bereits an: Sie wussten gar nicht, wie sie jetzt genau einsteigen sollten. Was sagen Sie zu dem, was Jochen Hörisch gerade gesagt hat?
C.M.: Ich bewundere erst einmal das Erregungs- und Aufregungspotential, dass das von einer Sekunde auf die nächste sofort hat, und würde sofort sagen, dass das etwas ist, was ich gerne aus dieser Debatte nicht herausnehmen würde, aber doch dämpfen würde. Ich glaube, dass das sofort entsteht, wenn man mit den großen Begriffen, mit der ganz großen Revolution mal schnell rüberrollt über solche Debatten, und sagt: „Ja, das war schon immer so, und dann gleich die großen Namen hinterher“, und dann noch ne Runde und noch ne Runde, und dann gleich den eigenen Körper ins Spiel bringen. Ich würde sagen: Langsam, langsam.
Es geht um sehr einfache Dinge, und es geht tatsächlich auch bei Literatur um einfache Dinge, wenn man das diskutiert. Es geht also nicht um das literarische Selbst. Literatur, die ungefährlich ist, ist uninteressant. Da können wir uns, glaube ich, einig sein. Es geht also darum, in welchen Räumen, und auf welche Art und Weise, unter welchen Machtbedingungen man das Literarische diskutiert, und in welcher Art und Weise man auf spezifische Aspekte Rücksicht zu nehmen hat. Das funktioniert in einer Erregungskultur eigentlich nicht, indem man sich gleich wieder erregt, sondern erst einmal da drüber, dass man sich anschaut, ok, welche Positionen sind dort, und welcher Art und Weise kann ich das im Diskurs über Literatur einholen?
J.D.: Nehmen wir ein Gegenargument aus einem zunächst unaufgeregten Medium, aus dem Feuilleton der F.A.Z. Ende September dieses Jahres hat die Schriftstellerin Olga Martynova in der F.A.Z. gegen die literarische Sprachpolizei angeschrieben mit den Worten: „Wohin mit Carl Einsteins kunsthistorischem Buch ‚Negerplastik’? Wohin mit den drei Zigeunern aus Nikolaus Lenaus gleichnamigem Gedicht? Mit den zehn kleinen Negerlein? Streichen?“
J.H.: Man kann die Liste weiter fortsetzen. Ich habe es ein bisschen in der Vorbereitung gemacht. Guckt man sich Hermann Hesse an, „Steppenwolf“, Kulturoman, da kommt ein Dutzend Mal „Negermusik“ und „Neger“ vor. Gucken wir uns Sartre an, der unverdächtig ist, ein Faschist zu sein, in der „Ekel“: Am laufenden Band kommt das N.-Wort vor. „Homo faber“; Max Frisch, Schullektüre, ich zitiere frei, aber sicherlich nicht ganz falsch: „Als ich aus der Ohnmacht erwachte, sah ich den wogenden Busen einer fetten Negerin über mir.“
Jetzt können wir natürlich anfangen, Hesse und Max Frisch und Sartre aus dem Verkehr zu ziehen, weil das einfach zumutungsreiche Verletzungen sind. Ich fühle mich auf der Mezzoebene angegriffen, und deshalb errege ich mich, wenn man den alten weißen Mann kritisiert und meint, man sei antirassistisch, wenn man das tut, und genau selbst in die Rassismusfalle kommt. Wollen wir ernsthaft sagen, Hesse, Sartre, Max Frisch aus dem Verkehr ziehen? Sieh hatten ja mit Carl Einstein – ich will dem Publikum nicht zu nahetreten – eher Geheimtipps.
Was machen wir, um ins ganz große Repertoire, und nicht erregt, sondern analytisch zu sprechen: „Wilhelm Meister“ ist der Bildungsroman schlechthin. Die feiern große Hamlet-Premiere, besaufen sich sinnlos. Wilhelm Meister als Held einer bildungsbürgerlichen Geschichte, geht mit zwei Frauen ins Bett. Die eine Frau ist keine Frau, sondern das ist Mignon, die ist elf oder zwölf Jahre alt. Die andere ist Philine. Also: Theatermilieu, der Spitzenregisseur, dem wir Sympathien entgegenbringen, der einen meisterhaften Namen hat, geht mit einer Halbwüchsigen, mit einem Mädchen, mit einer Kindsbraut ins Bett. Sollen wir jetzt den „Wilhelm Meister“ verbieten, weil es sein kann, dass eine Teilnehmerin eines amerikanischen Oberseminars über Goethe sich hart verletzt fühlt, und an Traumata erinnert wird. Wir können die Literatur definitiv schließen, kein Wilhelm Meister mehr, keine Lolita mehr, keine Lulu mehr. Wir können das machen; viel Spaß, ich würde dann emigrieren. Das ist totalitär, das ist der blanke Faschismus, das ist der Literaturfaschismus, den wir dann haben.
J.D.: Christian Metz, Sie lachen bereits. Sie versuchen reinzukommen…
C.M: Ja, ich würde sofort sagen: Wer will das? Wo ist die Schwierigkeit zwischen genau dem Ausloten, was historisch zu einer bestimmten Zeit gesagt wurde, und vor einem bestimmten historischen Hintergrund. Und soweit ich es weiß, gibt es bei diesem oder jenem Goethe-Band, von Sie ja auch nur träumen, dass der in Amerika gelesen wird, aber: so hier und da vielleicht – gibt es bei diesem oder jenem Goethe-Band ein Nachwort. Wenn man dort in kurzen, knappen Sätzen historisch situiert, wie der Sprachgebrauch ist, sehe ich überhaupt kein Problem drin, ok? Es geht nicht darum, sondern das ist gleich wieder die Provokationsschleife. Es gibt sofort das Aufrufen der Vorstellung, dass da jetzt jemand mit dem Schwarzstrich sitzt, und dann immer schöne Strichelchen macht und sagt: „Nein, raus das Wort. Gerade so noch rein.“ Um diese Szene geht es nicht. Es geht um historische Einbettung, und es geht darum, dass man, wenn man heute schreibt in einem deutschsprachigen Diskurs, ganz sicher anders damit umgeht, als das noch vor dreißig, vierzig Jahren war.
J.D.: Nun werden historisch-kritische Ausgaben von dem Großteil der Leserinnen und Leser eher nicht gekauft, und wir wissen auch, dass es schon Streichungen gegeben hat. Und wir wissen auch, dass jetzt darüber diskutiert wird, Sprache tatsächlich zu verändern, anzugleichen. Ich habe vorhin „Studenten“ gesagt, obwohl es politisch korrekt wäre, „Studierende“ zu sagen. Und Olga Martynova beendete ihren F.A.Z.-Essay mit den Worten: „Die Sprache, davon bin ich überzeugt, hat eine Selbstreparaturfunktion. Zwanzig oder dreißig Jahre später werden die jungen Menschen den ergrauten Gendersternchenfreaks mit nachsichtiger Ironie begegnen, wohl wissend, dass Gleichberechtigung und Respekt auf Kosten der Sprache nicht zu erreichen sind.“ – Irrt hier Olga Martynova?
C.M.: Ich würde sagen, dass eben der Begriff „die Sprache“ nichts Anderes ist, als eine Fiktion, und zwar eine hoch konservative Fiktion, die historisch etwas festzustellen scheint, und das sprachlich auch tut, was sich überhaupt nicht feststellen lässt-. Es gibt sie nicht: die Sprache. Und ich möchte wissen, mit welchen Mitteln man bitte diese Veränderungen, die man herbeiführen möchte, herbeiführen sollte, wenn nicht zuerst mit Sprache, wenn man Literatur schreibt. Soll der Literat von morgen vielleicht ohne Sprache schreiben? Das stelle ich mir auch als sehr experimentell vor.
Also: Selbstverständlich in der Sprache, und selbstverständlich dem Publikum, das man erreichen und ansprechen möchte angemessen. Wenn das Publikum nichts mit Gendersternchen zu tun hat, bitte. – Ich gebe Ihnen auch ein Beispiel. Ich habe ein Buch geschrieben über Gegenwartslyrik, und ich habe angefangen, immer wieder zu schreiben: „die Lyriker, die Lyriker heute“. Jetzt haben wir aber gerade eine Zeit, in der es der Lyrik sehr gut geht, und der mindestens siebzig Prozent der herausragenden Lyriker Lyrikerinnen sind. Wenn ich jetzt immer schreibe, „der Lyriker von heute“, dann kappe ich genau das, was die historische Besonderheit ist, dass das nämlich Mädels sind, und dass die verdammt nochmal was drauf haben, und dass die eben Lyrikerinnen sind.
J.D.: Schon „Mädels“ ist politisch unkorrekt.
C.M.: Ja.
J.H.: Ja, also, ich muss doch mit dem Kopf schütteln. – Aber ich will mal ganz konkret, damit es analytisch ist, nehmen. Ich finde es absolut richtig, dass ich nicht völlig missverstanden werde: Ich glaube, keiner, der bei Sinnen ist, käme auf die Idee, wenn jetzt die Oberbürgermeisterin hier wäre, sie anders als so anzureden: Oberbürgermeisterin oder Bundeskanzlerin, Ministerin. In meiner Jugend war das nicht so. Das war schamvoll. Ich finde es großartig, dass wir da sensibler geworden sind und feminine Formen einbauen, wo sie absolut, in jeder Weise grammatisch und semantisch plausibel sind. Ein Problem wird es, wenn man „Political Correctness“ jetzt so versteht, dass man sagt: „Ah, Frau Oberbürgermeisterin, aber sie ist doch nicht bloß die Meisterin der Bürger. Sie ist doch eigentlich Oberbürgerinnen und –bürgermeisterin. Vor allem kann man das Spiel immer weitertreiben. Das meinte ich mit jakobinisch…
C.M.: Aber Herr Hörisch…
J.H.: …oder stalinistisch.
J.D.: Christian Metz…
J.H.: Das Argument ist einfach so schön, dass ich es zu Ende bringen muss. Wenn man sagt „Aha, Frau Oberbürgerinnen und –bürgermeisterin, wo sind die trans, cis, divers-Leute?“ Also müsste ich sagen: „Frau Oberbürgerinnen und –bürger und –trans und –cis und –divers.“ Wo sind dann aber die Asylanten? Wo sind denn die Schutzbefohlenen, oder sowas? In dem Maße, wie man korrekt sein will schließt man ja immer mehr Leute aus. Das ist ja das absolut Bekloppte dabei. Ich nehme das einfach als alter Mann, sie merken es, erregt zur Kenntnis. Es sind die Youngsters, die Blockwarte sind, die die diskursive Polizei machen.
J.D.: Mit dem amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg gibt es bereits ein Konzept der sogenannten „Gewaltfreien Kommunikation.“ Diese erwartet, dass man aggressive Sprache suspendiert zugunsten einer zugewandten, verständnisvollen Form der Kommunikation. Wäre die Umsetzung der „gewaltfreien Kommunikation“ im Feld der Literatur nicht zugleich das Ende dieser Literatur?
C.M.: Ich glaube, es gibt bei dieser Art von Frage so etwas wie einen Kategorienwechsel. Ich möchte nicht Gendersternchen in Sprache haben, weil Sternchen so schön sind, sondern es geht darum, etwas politisch zu erreichen. Eine Möglichkeit, etwas politisch zu erreichen, und gerade für einen Literaten ist es, es über die Sprache zu tun. Die Sprache ist in diesem Fall das Mittel zum Zweck. Das heißt, es will niemand in die unendliche Ausdifferenzierung von noch weiteren Oberbürgermeisterinnenenenenenen oder Ähnlichem, sondern es geht darum, ein politisches Ziel zu erreichen, das heute unter dem Schlagwort – auch wieder nur ein Schlagwort – „Gleichberechtigung“ unter anderem firmiert, aber das ist nur eines.
Deswegen kann man sich vielleicht fragen: Ist für dieses politische Ziel eine solche Studie, wie Sie sie gerade eingebracht haben sinnvoll, kann die einem einen Blick eröffnen auf etwas, das man noch nicht gesehen hat? Oder ist die in diesem Fall etwas, was man nur zur Kenntnis nimmt und sagt: „Ok, hilft uns nicht weiter.“ Und ich werde mir umgekehrt nicht einreden lassen, dass ich den Fetisch des Gendersternchens hätte, statt dem Ziel, das ich gerne umsetzen würde. Das ist gerade der Versuch, der immer wieder an einen herangebracht wird, und ich kann Ihnen eine ganze Reihe von Publikationen zeigen, die inzwischen genau probieren aus dieser Polizeifunktion, die Identitätspolitik tatsächlich hat, schon seit den Achtziger Jahren weiß man das aber auch, herauszukommen, um zu reformulieren: „Nein, wir sind nicht das Aufpasserkommando, sondern wir haben etwas ganz Spezifisches vor Augen, das wir erreichen möchten.“
J.D.: Im Zusammenhang von Literatur und politischer Korrektheit wurde in den vergangenen Tagen hochaktuell diskutiert über die umstrittene Nobelpreis-Vergabe an Peter Handke, der eine Totenrede am Grab von Slobodan Milosevic gesprochen hatte. Der aktuelle Deutsche Buchpreisträger Saša Stanišić, selbst bosniakischer Herkunft griff am Montagabend Peter Handke an. Zuvor postete er auf Twitter tagelang gegen Handke und schrieb unter anderem am 11. Oktober: „Derailing. Whataboutisms. Entweder dummes oder absichtsvolles (was ist schlimmer?) Verkennen rechtlicher und gerichtlicher Tatsachen und nachgewiesener Wahrheit. Srebrenica-Genozid als ‚Rache’. So jemand. So jemand kriegt den Preis.“ – Was zählt denn nun? Autor? Werk? Seine Moral?
J.H.: Es zählt, aber mit der tiefe, tiefen Einsicht, dass das Werk das Werk, der Autor der Autor, die Biographie die Biographie und die Geschichte die Geschichte ist. Ich finde Handkes Äußerungen über Milosevic und über den Serbienkrieg unerträglich, falsch, inakzeptabel – ich bekämpfe die. Ich hoffe, dass ich mich klar ausgedrückt habe. Ich bewundere Teile seines Werkes; „Wunschloses Unglück“, „Niemandsbucht“, „Wiederholung“ – großartige Literatur. Und dass wir das nicht in unsere Köpfe reinkriegen, dass die alte Kalokagathie-Idee, „das Schöne ist das Wahre, ist das Gute“ schlechterdings nicht stimmt. Das ärgert mich so. Das kapiere ich nicht.
Goethe hat ein Urteil gegen eine Kindsmörderin als Minister mit unterschrieben. Es war ihm unangenehm, aber er hat es aus Gruppendruck dann eben doch gemacht. Sollen wir den „Faust“ jetzt nicht mehr lesen? Verlaine hat seine Frau krankenhausreif geschlagen, auf seinen Liebhaber geschossen, auf Rimbaud. Sollen wir jetzt sagen, Paul Verlaines Lyrik vergessen wir? Richard Wagner war ein widerwärtiger Antisemit, so viel kann man nicht fressen, wie man kotzen möchte, wenn man seinen „Judentum in der Musik“-Aufsatz liest. Sollen wir deshalb sagen, wir können jetzt nicht mehr den „Tristan“ hören, oder den „Ring des Nibelungen“?
Ich finde das wiederum eine derartig rational-argumentativ schlechterdings nicht einlösbare Figur, es müsse die Korrelation geben zwischen einer integren Biographie und einem großartigen poetischen Werk. Es gibt keine Korrelation dazwischen. Wenn überhaupt, dann wahrscheinlich die, dass Künstler weniger gehemmt sind als wir, die sind enthemmter. Die Dichter, die Komponisten, die bildenden Künstler sind in aller, aller Regel politisch nicht kompetenter als der Kfz-Mechaniker, der Obsthändler oder Studienrat. Es ist eine absurde Anforderung.
C.M.: Ich würde zu dieser jetzt gerade aufkommenden Debatte Folgendes sagen, nämlich, dass ich nicht für diese kategoriale Trennung bin, die Sie gerade wieder eingezogen haben zwischen: das ist die Literatur, und die sollten wir lesen, und das Andere spielt dort eine nachgeordnete Rolle, sondern, ich würde sagen, dass umgekehrt Herr Handke eine im Symbolischen muss man da ja auch sagen, einen sehr starken symbolischen Akt begangen hat, spätestens, wenn er nicht mehr nur darüber schreibt, was da offenbar seine politische Position ist, sondern wenn er tatsächlich zu dieser Beerdigung fährt, und dort eine Rede hält. Wir sind weiterhin auf dem Feld des Symbolischen.
Und was er mit dieser Aktion gemacht hat ist, er hat eine Spanne geöffnet, die sehr wohl in das Feld von Lektüre auch hineinfällt, und in dieser Spanne bewegt er sich seither, und diese Spanne hat er – und da halte ich ihn für einen durchaus klugen, vielleicht auch in dem Fall cleveren, aber nicht ganz sicher nicht auf den Zufall setzten Autor. In dieser Spanne bewegt er sich, und in dieser Spanne muss er sich weiterbewegen, und das muss er aushalten. Das heißt, er muss genau diesen Streit auch jetzt aushalten, und um diesen Streit geht es.
Es geht also um zweierlei, nämlich, Sie haben alle Glück gehabt, so wie ich auch, wir sprechen diese Sprache, die dieser Autor schreibt, und wir haben also die Möglichkeit und die Verpflichtung, im Gegensatz zu Anderen, diese Bücher zu lesen. Fangen Sie ruhig bei Herrn Hörischs Lieblingsbüchern von Herrn Handke an. Literatur braucht Leser, und Literatur gibt es nur im Gespräch, und die Literatur braucht keine Political Correctness, aber das Gespräch über Literatur wird nicht unbedingt darunter leiden, wenn man es politisch unter Zeichen der Korrektheit auch führt, und ich bin deswegen genau dafür, dass man sich über diese Gesprächssituation über das Literarische weiterhin Gedanken macht, und das nicht einfach polemisch vom Tisch wischt.
Die Deutschlandfunk-Streitkultur gibt es jeden Samstag ab 17:05 Uhr (hier geht es zur Sendungsseite).