Gestern sprach ich mit Bov Bjerg im Hildesheimer Literaturhaus St. Jakobi über seinen Bestseller „Auerhaus“. Das gab uns ausreichend Gelegenheit, um einige offene Fragen zu diskutieren, beim später gemeinsamen Abendessen im Gildenhaus (es gab Weißbier, Schupfnudeln und Lammkarree) über plötzlichen Erfolg, Fehler im Text und Schullektüren sprechen – und in bierseliger Stimmung, gemeinsam mit Literaturhaus-Intendant Dirk Brall zu klären: Was kommt als Nächstes?
Formel 1-Rennen schaut man, um einen spektakulären Crash zu sehen, beim Bird Watching warten alle auf die Erscheinung einer möglichst seltenen Vogelart, und wer die Literaturszene beobachtet, hofft auf die frühzeitige Entdeckung eines späteren Stars (eines „Early Birds“), den niemand vor der jeweiligen Saison auf dem Zettel haben konnte. Frank Witzels Überraschungsbuchpreisträgerbuch des vergangenen Jahres gehört dazu, das im kleinen Nautilus-Verlag veröffentlichte Krimidebüt „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel (2006) oder „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling.
„Auerhaus“, der zweite Roman des vor allem als Kabarettisten und Lesebühnenautor bekannten Bov Bjerg aus dem baden-württembergischen Heiningen gehört gewiss ebenfalls dazu. Die naiv erzählte, aber sehr bewusst konstruierte Coming-of-Age-Geschichte über eine Teenagerclique der Achtziger erschien am 17. Juli 2015, bekam auch etliche gute Rezensionen, ging allerdings erst durch die Decke, nachdem sich in der Dezemberausgabe des „Literarischen Quartett“ alle Beteiligten (Christine Westermann, Daniel Cohn-Bendit, Volker Weidermann) dem Gewaltintellektuellen Maxim Biller anschlossen, nachdem er hymnisch bekannte: „Ich habe ein solches Buch von einem deutschen Autor seit Ewigkeiten nicht gelesen, weil es zugleich sehr leicht geschrieben, mit Cliffhangern und Aussparungen besonders komponiert ist, es hat manchmal eine fast bibelhafte Knappheit in der Beschreibung der Szenen und gleichzeitig geht es um ein sehr schweres Thema.“
80.000 Exemplare sind bislang von „Auerhaus“ verkauft worden, eine Ausgabe für die Büchergilde Gutenberg erstellt, die 10. Auflage wird gedruckt, das Taschenbuch um ein halbes Jahr nach hinten verschoben, die Lesungen sind ausgebucht und auch im Hildesheimer Literaturhaus St. Jakobi konnte man spüren, dass diese kleine Geschichte die Menschen rührt, begeistert, geradezu beseelt zurücklässt. Dabei ist die Geschichte auf den ersten Blick ins Buch unspektakulär, eröffnet sie doch mit den lakonischen Sätzen: „Vera leuchtete runter. Auf den Stufen lag Frieder. Ich: ‚Weint er?‘ Vera: ‚Er lacht.‘“ Doch dass sie bereits hier in einen dieser menschlichen Abgründe hinableuchtet, den auch Georg Büchner im „Woyzeck“ gemeint haben muss, wird erst im weiteren Verlauf der Geschichte deutlich oder vielmehr: schemenhaft sichtbar. Denn Bov Bjerg verzichtet auf Scheinwerfer, Crescendi und Signalwörter. Bei ihm gerät die ganze Sache ins Rollen, als der Ich-Erzähler einwirft: „Jedenfalls, als die Sache passierte, da war ich gar nicht da. Und hatte auch nichts mitbekommen, logisch.“
„Die Sache“, das ist der missglückte Selbstmordversuch vom 17-jährigen Frieder, der daraufhin in die „Klapse“ kommt und irgendwann vor dem gleichnamigen Ich-Erzähler, genannt „Herr Höppner“ steht, im Irrenhaus. „Er setzte sich. Das sah so ungelenk aus, als wären ‚er‘ und ‚sich‘ zwei verschiedene Personen. Wer setzte sich? Er setzte sich. Wen setzte er? Sich setzte er.“ Zwischen dem ersten Hinweis und diesem Treffen liegen allerdings 16 Seiten, in denen der Ich-Erzähler von anderen Dingen erzählen muss, vom fiesen Freund der Mutter, kurz F2M2 (eine kleine Star Wars-Referenz), der allerdings nicht wirklich fies ist, sondern eher den Teenager nervt, wie Erwachsene ihre jüngeren Mitmenschen eben nerven. „Der F2M2 war Maler von Beruf. Kein Maler, der malen konnte, Landschaften oder Leute oder so was. Sondern einer, der anmalen konnte. Wände und so. Er hatte quasi gelernt, Farbe einigermaßen gleichmäßig zu verteilen, und jetzt war er Malergeselle.“
Bis sich Frieder und der Erzähler in der Klapse gegenüberstehen wird die Wohnzimmerwand tapeziert, mit Vera gibt es einen Trampingausflug nach West-Berlin zu einem Bekannten ihres Bruders, die beiden schauen sich probeweise Studentenbuden an und spielen Erstsemesterpärchen, Vera klaut ein nutzloses Duftbäumchen und in der Schule wird „Sturm und Drang“ durchgenommen, natürlich „Die Leiden des jungen Werther“: schon ist man von der Oberstufe über West-Berlin beim Selbstmord angelangt. Warum sich Frieder umbringen wollte, wird nicht erzählt, nur dass er danach (angeblich auf Anraten des Psychiaters) allein in das verlassene Haus seines im vergangenen Jahr verstorbenen Großvaters ziehen will – und der Ich-Erzähler zieht mit; um aufzupassen.
Da wird selbstverständlich der Bock zum Gärtner gemacht, denn es dauert nicht lang, bis sich dieses Haus, das von den Einheimischen „Auerhaus“ genannt wird, weil von drinnen ständig der Madness-Song „Our House“ dröhnt, weitere illustre Ausreißer anzieht, wie die zündelnde Pauline, die verwöhnte Cäcilia, die kein Geld von ihren begüterten Eltern annehmen will, dann noch der schwule Kiffer Harry, der zur Silvesterparty die halbe Homosexuellenszene zwischen Baden-Württemberg und Paris anlockt und sich seine Kohle am Bahnhofsstrich organisiert.
Sie versuchen, wie die Working-Class-Familiy aus dem Madness-Song, irgendwie erwachsen zu leben, also mit aufräumen und kochen. Das misslingt selbstverständlich, allerdings auf eine Weise, die zwischen Charles Dickens „Oliver Twist“, Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ und Benjamin Quabecks „Nichts bereuen“ steht. Man muss von Literatur keine Ahnung haben, um „Auerhaus“ zu lesen. Man muss aber von Literatur sehr viel Ahnung haben, um „Auerhaus“ zu schreiben.
Bov Bjerg hat, ob absichtlich oder unbewusst, die Geschichte in sich überschneidenden Ellipsen gebaut. Er legt alle Motive sorgsam an. Es gibt keine lose Handlungsstränge, keine unwahrscheinlichen Handlungen, die ohne vorherige Motivation wie aus dem Nichts auftauchen. Dieses von außen unscheinbare Auerhaus ist innen drin verkastelt und farblich abgestimmt, als habe ein Set-Designer ein Labyrinth von Jorge Luis Borges (oder gleich das „House of Leaves“ von Mark Danielewski) ausgestaltet.
Das Buch hat den Sound der frühen Achtzigern, obschon der häufig genannte The Godfather-Song „Birth, School, Work, Death“ 1988 erschienen ist. „Ich hatte den für einen Punkklassiker gehalten“, sagt Bov Bjerg, „und ich überlegte, ob ich deshalb kurz vor Schluss die Geschichte umschmeißen muss. Auch wurde mir von einem späteren Leser gesagt, dass man in den Achtzigern das Wort ‚verfickt‘ noch nicht kannte, was mich stundenlang recherchieren ließ, bis ich es in dem frühen, 1982 auf Deutsch erschienenen John Irving-Roman „Hotel New Hampshire“ fand, und zwar gemeint im gleichen Sinne wie in Auerhaus: verfickt wie verdammt.“
„Auerhaus“ funktioniert für 1983, funktioniert für 1988, weil die Mauer – für „Auerhaus“ muss man sagen glücklicherweise – erst 1989 geöffnet wurde und deshalb im Buch nicht thematisiert werden muss. Alles andere verschwimmt zu einer BRD-Historie („Auerhaus“ hat nichts von Miami Vice). Anfang, Mitte, Ende der Achtziger: „egal“, wie es Herr Höppner kommentieren würde. Die Reise geht so oder so weiter, mit einer Verfilmung, mit etlichen Theateraufführungen (Premiere ist am 16.10.2016 im Deutschen Theater, Berlin) und irgendwann auch mit einem neuen Buch. Zum Schreiben kommt Bov Bjerg bedauerlicherweise gerade nicht. Es gibt zu viel zu tun. „Als zwei Tage vor Erscheinen Spiegel-Online mein Auerhaus besprochen hatte, dachte ich: mehr wollte ich nie erreichen, das langt“, sagt Bov Bjerg und schaut danach fast ungläubig, „und dann passiert das hier alles.“
Bov Bjerg: „Auerhaus“, Blumenbar, 240 Seiten, 18 Euro / Das Hörbuch, gelesen von Robert Stadttore, erscheint bei Aufbau Audio