Die Liste jener Politiker, die gleichzeitig als Schriftsteller ihr Glück versuchten, ist lang. Wer Negativbeispiele sucht, der denkt unweigerlich an „Michael“, den 1929 erschienenen Roman von Joseph Goebbels oder an die drei Romane „Zabiba und der König“, „Die uneinnehmbare Festung“ und „Die Männer und die Stadt“ des irakischen Diktators Saddam Hussein.
Positiv aufgefallen sind dagegen der frühere tschechische Botschafter Jiří Gruša, der in den 1970er Jahren mit erotischer Lyrik für Aufsehen gesorgt hat. Hierzulande veröffentlicht der Grünen-Politiker Robert Habeck seit beinahe zwanzig Jahren Romane, Theaterstücke und Übersetzungen, die er gemeinsam mit seiner Ehefrau Andrea Paluch schreibt. Zu den schreibenden Politikern gehört auch Andrei Pleșu. Der Philosoph war von 1997 bis 1999 Außenminister Rumäniens. Und der Literatur-Nobelpreis des Jahres 1953 wurde verliehen an den britischen Premierminister Winston Churchill.
Rund sechseinhalb Dekaden später heißt der ranghöchste Minister im Vereinigten Königreich Boris Johnson, und – sic transit gloria mundi – auch er hat sich hervorgetan als Poet, mit der hierzulande im Mai 2012 erschienenen Klamotte „72 Jungfrauen“. 2012 war Johnson bereits Bürgermeister von London, und wie nah Dichtung und Wahrheit nebeneinanderliegen, zeigte eine slapstickartige Begebenheit aus der Realität. Der mehr an einen gealterten Brit-Popper denn an einen Politiker erinnernde Johnson wurde einst vor seinem Wohnhaus interviewt, als die Haustür zuschlug, und sich der verwirrt wirkende Bürgermeister ausschloss.
Eben diese im Nachhinein prophetische Situation kommt leicht abgeändert auch vor in „72 Jungfrauen“, jener politischen, über 400 Seiten dicken Satire, in der von einer fiktiven Terrordrohung in London erzählt wird; im Original übrigens ein Jahr vor den Londoner Anschlägen des 7. Julis 2005 erschienen. In Johnsons Roman wird ein Attentat auf den amerikanischen Präsidenten angekündigt – der am Tag der Romanhandlung in London auftreten soll.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht eines Abgeordneten, der eigene Probleme hat. Er ist in einen privaten Skandal verwickelt, der ein gefundenes Fressen für die britische Yellow Press ist. Nach Revolverblatt klingen ebenso die weiteren Figuren von „72 Jungfrauen“. Es treten unter anderem auf die verpeiltesten Al-Quaida-Terroristen seit dem Kinofilm „Four Lions“, es stümpern sich durch den Plot einige extrem dösige Polizisten, die zu allem taugen – nur nicht zur Verhinderung eines Attentats.
Bereits bei Erscheinen von Johnsons Roman stellte sich die Frage, ob ein ernstzunehmender Politiker mit Ergüssen wie diesen in die Öffentlichkeit treten darf. Zur Verteidigung des neuen britischen Premiers: Johnson teilt in „72 Jungfrauen“ nicht nur gegen Islamisten, Polizisten und seine eigene konservative Partei, die Tories aus; sondern auch gegen den US-amerikanischen Geheimdienst, der sich in einer Romanszene aufstacheln lässt von einem Werbefilm der Whiskey-Destillerie Jura:
„Irgendein Typ von der CIA durchsuchte das Internet nach verdächtigen Seiten und stieß auf diesen Werbefilm von Jura. Er sah, wie all diese grässlichen Flaschen mit geheimnisvoller gelber Flüssigkeit gefüllt wurden. Und wisst ihr, was passierte? Sie haben ernsthaft ein Team nach Großbritannien geschickt, in dem Glauben, es handele sich um Massenvernichtungswaffen.“
Diese Szene mag exemplarisch für den sehr schrägen Humor des britischen Premiers stehen, geschrieben vor seiner politischen Karriere, auf Pointe und mit zahlreichen Effekten versehen, also stilistisch nicht weit entfernt von der Art und Weise, wie Johnson sich als Politiker geriert. Den Literaturnobelpreis, wie Winston Churchill ihn bekam für seine Tagebücher, ist für Johnson in weiter Ferne – aber gleiches galt bis vor einigen Wochen auch für den Posten des Premierministers. Man mag es sich nicht vorstellen, doch in Zeiten wie diesen scheint selbst dieser Nobelpreis im Bereich des Möglichen.
Boris Johnson: „72 Jungfrauen“, aus dem Englischen von Juliane Zaubitzer, 416 Seiten, erschienen bei Haffmanns & Tolkemitt