Ein perfektes und ein beschädigtes Leben kommen in Lisa Kränzlers zweitem Roman „Nachhinein“ zusammen. Das schonungslos, von Missbrauch, Tod, Gewalt und schmutziger Liebe erzählende Buch ist bereits für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Zwei ungleichen Freundinnen werden bereits im Kindergarten in unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Die eine in die Gruppe der Sonne, die junge Erzählerin aber in der Gruppe des Mondes, „was mich wirklich betroffen machte, als ich herausfand, dass der Mond in Wirklichkeit eine Art Almosenempfänger der Sonne ist, ein passiv Angestrahlter ohne leuchtende Wirkkraft.“ Die Schwächere in dieser Beziehung ist dennoch das Sonnenmädchen, die im Buch den Dreifachnamen JasminCelineJustine bekommt, während sich die Erzählerin LottaLuisaLuzia nennt. Denn JasminCelineJustine, die auf ihre Freundin großen Einfluss haben, Macht besitzen könnte, verliert diese Macht von Anfang an: im eigenen Elternhaus.
Das Mädchen wird daheim vom Vater, der in einer Kartonfabrik arbeitet, auf brutalste Weise zusammengefaltet, geschlagen und getrietzt, beschimpft und getreten. Ihr großer Bruder ist ein übergriffiger, sexistischer, Brüste betatschender Lüstling ohne Mitleid, ohne Kultur. Wenn JasminCelineJustine spätnachts in ihr Schlafzimmer schleicht, hört sie das Wimmern ihrer Mutter, die in der Küche vom Vater geohrfeigt wird. Dem entgegengesetzt ist die Erzählerin, Mittelstandskind aus behütetem Haus. Sie bekommt Klavierunterricht und wird zum Sport geschickt, damit sie vom Sitzen am Klavier keine Haltungsschäden davonträgt.
Daheim gibt es Vinylschallplatten von Glenn Gould und eine Brockhaus-Lexikonwand. Wer vor 20 Uhr oder nach 20:15 Uhr Fernsehen schaut gilt in diesen Kreisen als Prolet. Selbstverständlich werden Silvester keine D-Böller angesteckt. In der Schule läuft es ganz gut. LottaLuisaLuzia wird ins Jugendsymphonieorchester berufen. Die einst von der Sonne Angestrahlte wähnt sich im Scheinwerferlicht. Diese beiden Leben, gemeinsam in Freundschaft begonnen, streben durch die unterschiedlichen Elternhäuser auseinander. Die Erzählerin wechselt irgendwann aufs Gymnasium, beginnt früh mit einer Sinnsuche im Inneren, während JasminCelineJustine zur wehrhaften Streetfighterin gegen die bösen Einflüsse von Außen mutiert. Nie wieder Opfer sein! Der Roman ist vor allem deshalb grossartig, weil Lisa Kränzler eine Sprache gefunden hat, um das von Anfang an stattfindende Angestrahlt-Sein der Mittelstandsfreundin darstellt, den Narzissmus, das Gefühl der Überlegenheit, das Herausgehobene.
Während JasminCelineJustine ihre innerste Unschuld verteidigen muss, will die Erzählerin mit ihrer äußeren Unschuld, ihrer totalen Unversehrtheit spielen. Der makellose Teint, die gestriegelten Manieren ändern nichts daran, dass sie schmutzige, zu schmutzigen Dingen bereits Körperöffnungen hat, dass in ihr der Wahnsinn tobt (mindestens der von Glenn Gould), dass sie eigentlich doch „Schmuddelkind ist von Kopf bis Fuß“. Als ihre Periode verspätet eintritt, treibt sich LottaLuisaLuzia immer häufiger in Frauentoiletten rum, „um meine Angehörigkeit zum Kreis der Blutenden vorzutäuschen.“ Genau das ist sie aber auch: Eine Täuschende. Für sie ist das Wilde ein Spiel. Für sie ist der Wahnsinn eine Methode. Für JasminCelineJustine ist der Wahnsinn nackte Realität, das Wilde nichts anderes als ein zerrüttetes Elternhaus.
Dazu kommt, dass sich LottaLuisaLuzia als geniale Künstlerin inszeniert, dass sie ihrer Freundin auch noch die Eigenständigkeit nimmt, wie der weiße, hedonistische Rock’n’Roll den schwarzen, ernsten Rhythm and Blues ausschlachtete. Der deutsche Novellenautor Hartmut Lange hat einmal in einem Interview gesagt: „Die Konsequenz des Nachdenkens im Bildungsprivileg muss immer dazu führen, dass man sagt: eigentlich ist der gute Charakter, die Ethik, das Mitleid, die Barmherzigkeit, die Nächstenliebe, viel wichtiger, als der Verstand.“ Mit diesem Humanismus kann LottaLuisaLuzia nichts anfangen. Sie ist blind für die anderen. Die Unterschicht ist für eine wie sie Folklore. „Nachhinein ist ein erbarmungsloser Text und Lisa Kränzler die Autorin der Stunde.
Lisa Kränzler: „Nachhinein“, Verbrecher Verlag, 272 Seiten, 22 Euro