Blut ist dicker als Wasser und geweint wird hier bitte nicht: Philipp Tingler stellt in seinem aktuellen Roman „Fischtal“ eine hypernervöse, dekadente Bürgersfamilie vor, die Thomas Manns Buddenbrooks in keiner Weise nachstehen will.
Es gibt Firmen, die produzieren gusseiserne Gartenscheren und pseudoantike Korkenzieher. Andere bauen Oldtimer nach oder drucken digital gealterte Fotokarten. Der Klassikermarkt boomt. Aus gutem Grund. Die moderne Welt ist bekanntlich kalt und stürmisch, draußen wartet der böse Wolf oder Hartz IV. Deshalb schaltet man privat ab, blickt zurück, auf längst gefochtene Kämpfe, auch wenn es nicht die eigenen waren. Dazu gibt es fair gehandelten Bio-Tee aus Wilhelm-Wagenfeld-Kannen, man sitzt auf Charles-Eames-Nachbauten von Ikea und wer es sich leisten kann, der kauft bei Manufactum eine Stowa-Fliegeruhr für 530 Euro, in der Hoffnung, dass dieses Fabrikat auch vergangene Zeiten anzeigen kann.
Philipp Tingler hat mit „Fischtal“ den Roman zum Nostalgietrend verfasst. Rechtschaffen erzählt der 37-Jährige im gehobenen Bildungsjargon von einer alten Welt, in der man Hamann-Konfekt nascht, am Blüthner-Flügel lehnt, gelangweilt kalifornischen Champagner trinkt und Sachen sagt wie: „Man hat das Prinzip zur Geltung zu bringen, das man darstellt.“ Großmama ist tot und Enkel Gustav kehrt mit Freundin Lilli in die alte Villa im Westen Berlins zurück, um heimlich ein paar Erbstücke abzuholen. Da sich die restliche Verwandtschaft ebenfalls auf den Weg gemacht hat, kann das intrigante Spiel um die schönsten Hinterlassenschaften beginnen. Zugleich wird, im Blick zurück, Omas Leben rekapituliert. Neben Gin-Gläsern und Konserven hat die alte Damen nämlich vor allen Dingen eine bewegte Geschichte hinterlassen.
Man erfährt auf 300 Seiten etliches über Befindlichkeiten und Ängste einer scheinbar typischen Ärztefamilie. Diese zart besaiteten Menschen sind in „Fischtal“ ganz besonders ängstlich. Überall lauert der Abstieg aus dem Oberklasse-Leben und der artige Nachwuchs wird mit Drohungen, als „Schuhverkäuferin bei Leiser“ zu enden, unter veritablen Erfolgsdruck gesetzt. Dabei ist Haltung zu bewahren, „bloß nicht heulen“ heißt die Devise, was meistens funktioniert, den reichlich geschluckten Pillen (Ärztehaushalt!) sei Dank. Nur innendrin (Herz, Seele) schaut es leer und immer leerer aus.
Da sitzt eine Familie im geteilten Berlin der Nachkriegszeit und baut ihre privaten Mauern gleich dazu. Dass selbige in der Literatur gern bröckeln, gehört zum sozialromantischen Wunschdenken etlicher Autoren. Die Versicherung, dass hübsche und reiche Menschen ebenso, wenn nicht gar noch mehr leiden, als die hässlichen und armen, wärmt alle Herzen und fördert manchmal den Verkauf. Schon Thomas Mann hat mit seinem Debüt „Die Buddenbrooks“ eine langsam verfallende Familie beschrieben. Und Ex-Model Philipp Tingler, der in Zürich mit seiner Doktorarbeit über den „Einfluss des transzendentalen Idealismus auf das Leben und Werk Thomas Manns“ promovierte, bedient sich reichhaltig am Sprachschatz des deutschen Dichterfürsten, an dessen Setting, an den Figurennamen. Sesemi Weichbrodt aus den Buddenbrooks heißt in „Fischtal“ mit Vornamen Ermenegilda, hat auch einen anderen Job, aber tritt mit ähnlicher Wirkung auf, der Thomas Mann-Kenner sagt „aha!“.
Im Fischtal wird außerdem, wie bei den Buddenbrooks, edel gelitten. Und auch bei Philipp Tingler ist jeder Raum sorgsam in satte Schöner-Wohnen-Worte gekleidet: „Tonnenschwere Vorhänge aus cremfarbenem Damast ließen nur ein ganz klein bisschen hartnäckigsten Sonnenschein passieren, der einen Fächer aus durchleuchteten Staubbändern über dem Tisch aufschlug.“ Das ist sprachmächtig, schwer und süßlich, überkandiedlt, exaltiert. Kaum jemand schreibt heutzutage wie Philipp Tingler, der sein Publikum gleich massenhaft mit einem „wir“ anspricht (altmodisch, aber schön) und damit umarmt, auf dass sich keiner ausgestoßen fühlt. Das ist Schaukelstuhlliteratur für geistig Bessergestellte, mag man meinen. Für den einen liegt darin ein großer Reiz, weil raunend-beschwörender Imperfekt stets für gymnasiale Ehrfurcht sorgt. Andere fühlen sich nach der Lektüre vermutlich überfressen, als hätten sie, wie Haushälterin Ermenegilda Weichbrodt, zu viel Hamann-Konfekt genascht. So oder so: Es lohnt, dieses wunderschön gestaltete Buch zu lesen, denn es hält den Ton, das Timbre pausenlos, ohne Ausreißer. „Fischtal“ ist anspielungsreich, stellenweise witzig, immer reaktionär und wenn man genau hinsieht, dann ist es auch ein bisschen Pop.
Philipp Tingler: „Fischtal“, Kein & Aber, 304 Seiten, 22,80