Gesoffen haben vor allem die Väter in der Familie von „Motte“, der später selbst alkoholkranken Erzählerin in Lena Schättes: „Das Schwarz an den Händen meines Vaters“. Ein unsentimentaler Bericht über Scham, Delirien und Kater-Lügen.

Deutschland steht hinsichtlich der pro Kopf konsumierten Menge reinen Alkohols auf dem weltweit fünften Platz. Bei mindestens 15 Prozent hat der Konsum riskante Ausmaße angenommen. Nach einer langen Phase der dramatischen Säufer-Verklärung von F. Scott Fitzgerald bis Charles Bukowski schrieben Männer auch über die dunklen Seiten dieser Sucht. Vor rund zehn Jahren beeindruckte Daniel Schreiber mit seinem „Nüchtern“-Essay oder Benjamin von Stuckrad-Barres „Panikherz“-Buch.

Neuerdings berichten auch Frauen von Kontrollverlusten, Konterbieren und Vollräuschen. Da gibt es die alkoholkranke Mutter in Caroline Wahls „22 Bahnen“, die autofiktionale Beichte „Dry“ von Christine Koschmieder und ganz aktuell die Mehrgenerationentrinker in Lena Schättes zweitem Roman „Das Schwarz an den Händen meines Vaters“. Dort warnt die Mutter vor schnapstrinkenden Männern. Diese würden schnell aggressiv, entweder gar nicht heimkommen oder von der Polizei nach Hause gebracht werden. „Und sie bringt uns bei, dass eine Frau immer Fluchtgeld haben muss. Hinter einer lockeren Kachel in der Waschküche, in einem alten Winterstiefel im Kleiderschrank oder in einer Tupperbox im Gefrierfach, auf deren Aufkleber Linsensuppe steht.“

Der stete Weg des Niedergangs

Die Ich-Erzählerin wird „Motte“ gerufen. Sie wächst unter Malochern auf, die ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienen. „Das Schwarz an den Händen meines Vaters“ stammt vom Fabrikjob; es kriecht ihm bis unter die Fingernägel. So sitzt der ermattete Pater familias wochentags am Abendbrottisch, nachdem er das erste Feierabendbier getrunken hat. Von dort wird er selten hochkommen, stattdessen weitertrinken, zunächst maßvoll, nur an den Frei- und Samstagen heftiger, sodass er montags einigermaßen frisch in der Werkshalle stehen kann. Dennoch hört er irgendwann auf zu arbeiten, „weil er sonntags keine Pause mehr macht und montags nicht mehr nüchtern ist und weil die auf der Arbeit das merken und Angst haben, dass er sich eine Hand absägt oder sich die Finger klemmt oder das sonst etwas Schlimmes passiert. Also setzen sie ihn ins Büro, doch da will er nicht sein und geht irgendwann nicht mehr hin. Und dann verlieren wir das Haus, ziehen in eine Wohnung, in der die Wände ganz dünn sind und ich alles hören kann.“

Im schmucklosen Ton protokolliert Lena Schätte den Verfall einer ohnehin gebeutelten Familie, in der bereits die Großväter trinken, die Töchter zwangsläufig in eine Co-Abhängigkeit und selbst an Trinker geraten, so wie auch Motte einen Alkoholiker als Partner wählen wird: „weil es wie zu Hause ist.“ Mit trinkenden Männern kann sie umgehen. Was zu tun ist, wurde in der Familie eingeübt. „Sie haben mir beigebracht, dass das, was zu Hause passiert, zu Hause bleibt. Wie man Erbrochenes schnell aus den Fugen und von den Autositzen bekommt, wie man lügt, so dass es alle glauben. Ich weiß, wie man einen Mann zurechtrückt. So, dass er am nächsten Morgen frisch geduscht und kerzengerade am Frühstückstisch sitzt und alles ein paar Tage gut ist.“

Co-Abhängigkeit als Familientrauma

Inzwischen widerlegt ist Leo Tolstois Diktum, dass alle glücklichen Familien einander gleichen, jede unglückliche Familie aber auf ihre Weise unglücklich ist. Lena Schätte, die als Psychiatriekrankenschwester gearbeitet hat, kennt die lehrbuchbekannten Dynamiken, die in unglücklichen Familien zur Geltung kommen: das Verschweigen und Verbergen, die immer kürzer werdenden Intervalle zwischen den Katastrophen und einer nur scheinbaren Beruhigung, die schädigenden Effekte auf die Psyche eines Kindes, das zwangsläufig traumatisiert wird und später lediglich bruchstückhafte Erinnerungen hat. In 64 kurzen, gleichsam zerstückelten Kapiteln rekapituliert Motte die Alkoholabhängigkeit ihres Großvaters, des Vaters, auch ihre eigene, in die sie gemeinsam mit ihrem Partner abdriftet. „Ich schaffe es montags nicht mehr zur Arbeit, lasse dafür Großmütter sterben, erfinde Magen-Darm-Infekte, und meine Chefin murmelt Gute Besserung. Meine Freunde fragen mich nicht mehr, ob ich mitkommen will, wenn sie zusammen ausgehen.“

Lena Schättes Roman ist im Duktus der Neuen Sachlichkeit geschrieben, jener wirklichkeitsnahen Literatur- und Kunstströmung, die bereits vor einhundert Jahren auf die Verwerfungen der Weimarer Republik schaute – also jener Zeit, die mit unserer oft verglichen wird. Auch damals gab es erbarmungslose Thematisierungen der Volksdroge Alkohol, etwa Hans Falladas autobiographisch inspirierter Roman „Der Trinker“. Lena Schättes „Das Schwarz an den Händen meines Vaters“ reproduziert auf seiner mosaikartigen Formebene die unverbundene Art traumatischer Erinnerung: die anschließend sinnvoll geordnet wurde. Nur so erscheint „Das Schwarz an den Händen meines Vaters“ als ein nüchternes Protokoll über volltrunkene Tage, als ein unsentimentales Stück über die Härten des Lebens, zugleich als bildhafte Schau weiblicher Resilienz, während die schwächeren Männer fliehen – in ihren eigenen Abgrund, aus dem jegliche Rettung: unwahrscheinlich bleibt.

Lena Schätte: „Das Schwarz an den Händen meines Vaters“, S. Fischer, Frankfurt, 192 Seiten, 24 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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