Minusgrade, Schneewehen, düstere Nachmittage: Ich erinnere mich noch gut an den Lokalzeitungsklassiker der WZ in Wuppertal, als ein Redakteur schrieb: „Sie kommen zumeist im Dunkeln, sind unerwünscht und gefährlich. Die Rede ist von Einbrechern. Gestern Nacht wurde die Stadt von einem Wintereinbruch überrascht.“ – Sprachlich korrekter (aber dafür auch weniger lustig) sind diese vier Schneebücher, passend zum baldigen Winteranfang ausgegraben, während die Zeitungen bereits fragen: „Wie groß sind die Chancen auf weiße Weihnachten?„. (Das Beitragsbild kommt von Wikipedia und zeigt das Gebirgspanorama von Davos, Schauplatz des „Zauberberg“-Romans von Thomas Mann.)
EINS Wenn ihr demnächst im Schneetreiben steht, schaut zur dicksten Flocke und denkt an die überaus böse Schneekönigin aus Hans Christian Andersens Kunstmärchen, die irgendwo in diesem weißen, wirbelnden Nichts herumschwirrt. Diese Königin entführt den kleinen Kay, nimmt ihn seiner besten Freundin Gerda weg, und verschleppt ihn zum Nordpol, auf ihr Anwesen: “Die Wände des Schlosses waren aus treibendem Schnee und die Fenster und Türen aus schneienden Winden.” Dort sitzt der verhexte Kay mit erfrorenem Herzen, ohne Erinnerung an seine Gerda, und müht sich ab, aus unendlich vielen Eisstücken das Wort “Ewigkeit” zu puzzeln. Gerda zieht nun Richtung Norden, um Kay und sein erfrorenes Herz zu erlösen. Reicht ihre heiße Liebe, um Kay aufzutauen? Wunderschöne, tieftraurige Frostgeschichte. – Wer es postmodern mag, dem sei die Serie „Once upon a time“ ans kalte Herz gelegt.
(Hans Christian Andersen: “Die Schneekönigin”, Insel, 106 Seiten, 8 Euro, Das Hörbuch, gelesen von Dietmar Mues, ist erschienen bei der Deutschen Grammophon Literatur, 1 CD, 108 Minuten.)
ZWEI Ob Theodor Storm, Thomas Mann (weiter unten), Theodor Fontane – aus dem Norden Deutschlands kommen etliche Meister. Der Flensburger Jan Christophersen reiht sich mit seinem Debüt in diese Tradition ein. Zum Jahreswechsel 1978/79 versinkt ein norddeutsches Dorf im Schneechaos. Jan Christophersen erzählt von den Menschen, die in der einzigen Kneipe ausharren, nachdem die Melkmaschinen ausgefallen und das moderne Leben zum Erliegen gekommen ist. Sechs Jahre hat der 34-jährige Absolvent des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig recherchiert und eine große Geschichte erfunden, die mehrere Jahrzehnte ausfüllt, von abgeschossenen Piloten der Royal Air Force erzählt, von der untergegangenen Insel Rungholt, von ungewollten Schwangerschaften und einem folgenreichen Herzinfarkt. Ein großartiges Buch für lange Winterabende – rau, hell, klar. 2009 ausgezeichnet mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses.
(Jan Christophersen: “Schneetage”, Mare, 370 Seiten, 22 Euro / das Taschenbuch erscheint bei Fischer)
DREI Hinein ins weiße, wirbelnde Nichts: ”Als Julius treuer Pitbullterrier Hobbes erschossen im Schnee liegt, “aus allernächster Nähe, aus einer Entfernung von ein paar Zentimetern. Die Schrotkugeln sitzen tief im Rücken”, dreht der amerikanische Einsiedler durch. Mit seinem Enfield-Gewehr aus dem Ersten Weltkrieg zieht Julius durch die verschneiten Wälder von Maine. Er will nur das Eine: seinen ermordeten Hund zu rächen.
Jason wird zum Scharfschützen. “Winter in Maine” erzählt eiskalt von einem Blutbad in Norden Amerikas, das einen atemlos die Kapitel blättern lässt. Getrieben vom Verlust, von der Trauer, die nicht vergehen will, richtet Julius, ohne Richter, Schöffen, Henker. Unnachahmlich schildert Gerard Donovan die tiefe Not eines Verzweifelten, der zuletzt merkt, dass er in einer Falle sitzt – wie ein Sniper nach dem letzten Schuss.
(Gerard Donovan: “Winter in Maine”, übersetzt von Thomas Gunkel, Luchterhand, 210 Seiten, 17,95 Euro / Das Hörbuch, gelesen von Markus Hoffmann, erscheint bei steinbach sprechende bücher)
VIER Davos vor dem Ersten Weltkrieg: Schiffsbauingenieur Hans Castorp reist aus dem Hamburger Flachland zu seinem Vetter, der in einer Lungenfachklinik auf dem “Zauberberg” weilt. Nach skurrilen Begegnungen mit Hypochondern, Todkranken, Wahnsinnigen, Genies, ätherischen Mädchen, Fanatikern und Philosophen werden aus dem geplanten Kurzurlaub sieben Jahre in denen Castorp immer wieder Ausreden findet, Krankheiten halluziniert, um nicht zurückkehren zu müssen. Was hält ihn ab? Er ist schlicht gefangen in einer Traumwelt. Eine türschlagende Russin mit Katzenaugen becirct sein Herz, ein italienischer Freimaurer kämpft mit einem asketischen Jesuiten um Castorps Gunst. Das schmeichelt, verzaubert, fesselt. Es gibt ein tragisches Duell, ausgelassene Karnevalsfeste, Abstürze und Fieberträume. Dazwischen brennt die Sonne im Winter, schneit es unaufhörlich an schönsten Sommertagen, das Wetter verwirrt den Helden – der auf dem Höhepunkt dieses großen Romans im Schneetreiben allein zusammenbricht und von einen schrecklichen Alptraum heimgesucht wird. Gegen diesen “Schneetraum” ist jeder John Carpenter-Horror ein buntes KiKa-Abenteuer.
(Thomas Mann: “Der Zauberberg”, Fischer, 1008 Seiten, 15 Euro (Geschenkausgabe). Das Hörbuch, gelesen von Gert Westphal, ist erschienen bei der Deutschen Grammophon Literatur, 15 CDs, 1170 Minuten.)