Hartmut Lange im Gespräch. Gerade erschien die neue Ausgabe der Literaturzeitschrift „Am Erker“ – mit einem Essay von mir über Hartmut Lange, Kontingenzbewältigungen und „Die Selbstverbrennung“. Bereits im Dezember vergangenen Jahres traf ich mit meinem Münsteraner Uni-Kurs den Autor in den Berliner Räumen des Verlages Matthes & Seitz. Hier gibt es einen Teil des Transkripts, mit Fragen zu Langes früher Kindheit am Ende des Zweiten Weltkrieges in Polen, seine Angst vor dem Tod und die blutigen Anfangsjahre der DDR. (weiter unten: der Kurs beim Besuch in Berlin, mittig Hartmut Lange mit Mütze)
Welche Erlebnisse, haben Sie persönlich geprägt? Die lauern im Unterbewusstsein. Ich war acht Jahre alt, wir waren in Polen, mein Vater leitete eine Gendarmerie auf dem Lande. Zu uns kamen immer die Gestapo und die SS. Das Erste, an das ich mich erinnern kann, wo bei mir ein Angsthorizont entstand war, als einer dieser Offiziere mich auf den Knien geschaukelt hatte. Auf den Mützen, die auf dem Tisch lagen, war ein Totenkopf. Von hinten hörte man den Kanonendonner von der Weichsel. Dann sagte der eine zu mir: „Wenn die Russen dich erwischen, dann schlitzen sie dir mit dem Beil den Bauch auf.“ Wir sind eingekesselt worden. Es folgte die Flucht, ständig ein Angriff von Tieffliegern, wir mussten in den Wald. Dann sind wir gefangen genommen worden. Mein Vater ist erschossen worden. Aber die Russen haben mich auf den Knie genommen und haben mir Kekse gegeben. – Vor drei oder fünf Jahren hatte ich eine Lesereise durch Polen – und je mehr ich mich Warschau nährte, desto mehr Angst bekam ich. Meine Mutter musste damals mit erhobenen Armen vor den Soldaten hergehen. Da habe ich gedacht: Wir werden umgebracht. Das ist das erste traumatische Erlebnis. – Wenn Sie das zu früh erwischt, dann rutscht das ins Unterbewusstsein. Kinder sind völlig naiv. Die können auch Schreckenshorizonte einfach vergessen. Aber dann ist er unten drin. Noch heute träume ich regelmäßig alle drei, vier Nächte, dass ich umgebracht werde und ich schrecke hoch.
Sie sind dann in der DDR aufgewachsen… Ich hatte immer eine Teilung. Wenn ich im Dokumentarfilm die Faschisten sah, dann hatte ich ein emotionales Gefühl von verwandtschaftlicher Nähe und immer wenn ich die rote Armee sah, hatte ich ein verwandtschaftliches Gefühl zur Höhe und Moral. In der DDR wurde der Hegelsche Vernunftbegriff in das soziale Gewissen gepumpt. Ich hatte immer das Gefühl: Das ist die bessere Gesellschaft, die menschlichere. Das soziale Versprechen war ein humanes. Bis ich Isaac Deutschers Berichte über die Kriegsverbrechen der KPdSU gelesen hatte. Da kriegte ich plötzlich einen unglaublichen Schreck, denn: ich war ein Arbeiterkind und hatte unter meinem Namen immer einen roten Strich, wurde besonders gefördert. Ich hatte kein Abitur, durfte aber studieren, ich bekam mehr Stipendien, als die Bürgerlichen und so weiter. Doch plötzlich hatte ich das Gefühl, dass da 70 Millionen Ermordete auf dem Schoße meiner Eltern, auf dem Schoß meiner kulturpolitischen Eltern sitzen. Damit war der Marxismus, also der Stalinismus, für mich moralisch abgebrannt. Die ganze Verbindung zwischen den Nazis und der Roten Armee kam wieder hoch. Da habe ich mich entschlossen, zu fliehen. Jetzt ist es aber so: Wenn Sie sich entschließen zu fliehen, dann kriegen Sie wieder Angst. Sie dürfen ja nicht erwischt werden. Wenn Sie erwischt werden, dann sitzen Sie bei der Staatssicherheit und dann sagen die: „Ach Herr Lange, das ist ja interessant, dass wir uns hier wiedersehen.“ Dann haben die auch noch versucht, mich für die Stasi zu werben. Das war dann der zweite Angsthorizont.
Warum war die Stasi keine Option für Sie? Gute Frage. Aber die kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich bin nach dem 11. Schuljahr von der Schule geflogen, weil ich nichts mehr gemacht habe. Dann haben die mich bei der Generalstaatsanwaltschaft in die Personalabteilung gesteckt. Da habe ich so einen guten Eindruck gemacht, dass mich eines Tages die Kaderleiter zu sich gerufen und gesagt hat: „Hartmut, wir haben etwas. Möchtest du Staatsanwalt werden?“ Da habe ich gesagt: „Ja, sicher. Warum?“ – „Wir wissen, dass du für Sozialismus bist. Wir schicken dich auf die Walter-Ulbricht-Akademie. Du hast zwar kein Abitur. Das ist aber kein Problem. Du wirst Staatsanwalt.“ Ich habe dann gesagt. „Da freue ich mich. Das ist eine große Ehre.“ Ich wollte wirklich Staatsanwalt werden in der DDR. Und dann sagte der Offizier: „Gut. In vier Wochen melden wir uns wieder.“ Da war er in der Tür und sagte: „Augenblick mal, ich habe hier noch eine Sache zu erledigen. Ich habe gesehen, du bist ja gar kein Mitglied unserer Partei. Unterschreib’ das.“ Da habe ich gesagt: „Das mache ich nicht. Das verstehe ich überhaupt nicht.“ Das muss Ende ’59 gewesen sein. Der fiel völlig vom Stuhl und sagte: Das wiederum verstehe ich nicht. Du willst Staatsanwalt werden und willst nicht in die Partei eintreten?“ Das war der erste Schritt. Der zweite Schritt war, als die Stasi zu mir kam. Ich hatte nicht das Gefühl, dass der mir fremd war. Das waren eben die Genossen von der geheimen Front. Es gab Genossen von der Ostfront und welche von der geheimen Front. Da hatte ich schon bei Suhrkamp veröffentlicht. Der hat mich dann bestellt und gesagt: „Hartmut, arbeite für uns.“ Da habe ich wieder gesagt: „Das mache ich nicht.“ Dann hat der gefragt: „Warum nicht? Du bist doch für den Sozialismus.“ Daraufhin sagte ich: „Ja.“ – „Dann arbeite für uns. Kriegst ein Auto, kannst alles bekommen.“ Da habe ich gesagt: „Nein, mache ich nicht.“
Das klingt geradezu verrückt. Ja, es ist verrückt. Aber es ist, glaube ich, die Unerlöstheit des Subjekts. Das heißt, ich bin so subjektiv veranlagt, dass ich kein Pfarrer werden, keine Gemeinde leiten und auch nicht in eine Partei eintreten könnte. Ich hatte mal ein Verhältnis mit einer an der Filmhochschule. Das war eine große Liebe mit der Helga Schütz. Ich weiß nicht ob Sie die kennen. Aber ich glaube, die war sogar verheiratet und die musste sich immer bei der Partei dafür verantworten, warum sie mit mir ein Verhältnis hat. Das hat die dann immer versucht und das ist so ’ne Sache… Also, ich verstehe mein eigenes Subjekt auch nicht. Ich bin sozusagen in dieser Gefangenschaft.
Addieren wir das Konzept der Kontingenz – dann müssen Sie doch angenommen haben, dass Ihre Entscheidung ebenso positive wie negative Folgen hätte haben können, da in den Sechziger Jahren die historischen Entwicklungen von 1969 kaum vorhersehbar waren? Darüber habe ich nicht nachgedacht. Für mich gab es zwei Phasen in meinem Leben, denn ich habe zwei Seelen in meiner Brust: eine stark rationalistische, ich habe ein hohes Abstraktionsvermögen und ich habe eine ganz anschauliche, sozusagen durch Empathie getränkte, ganz konkrete Anschauung. Der Marxismus hat mich angezogen, weil er rationalistisch war und ein soziales Versprechen hatte. Da kam in dem Augenblick beides bei mir zusammen. Aber als ich das Land verlassen habe, habe ich die Schwierigkeiten im Westen erfahren. Die DDR war für mich abgebrannt, als ich gelesen habe, dass Stalin 70 Millionen Leute umgebracht hat. Hacks und Brecht haben gesagt: Jedes Zeitalter fängt blutig an. Die haben immer gesagt: „Ich weß net watt du willst, äh: Die Revolution? frisst eben ihre Kinder…“ oder Heiner Müller hat gesagt: „Besser Sozialismus mit Panzern als gar kein Sozialismus.“ In der Not des freien Falls habe ich versucht, mich dem Empathieversprechen des Christentums zu nähern. Also, ich könnte an keine Religion anknüpfen, die rechthaberisch und menschenunfreundlich ist. Aber das Christentum ist mit seinen Zehn Geboten genau das. Ich bekam, als ich mich in der Einsamkeit der Kontingenz wiederfand, ein ganz starkes Transzendenzbegehren.
Ihr Transzendenzbegehren wurde durch die Suche nach Religion gestillt? Durch das Christentum. Deshalb habe hab ich „Die Selbstverbrennung“ geschrieben.
Sie haben immer gesagt, Sie hätten sich geradezu um Gott bemüht… Ja. Ich habe mich bemüht, Gott aber nicht gefunden. Ich glaube, ich bin heute ein ganz strikter Nihilist. Das löscht nur Transzendenzbegehren nicht. Wir alle haben eine ganz starkes Transzendenzbegehren. In dem Augenblick, wo jemand ans Bett tritt und sagt: „Du hast noch zwei Stunden zu leben“, da möchte ich den sehen, der transzendenzlos ist.
In den Schützengräben gibt es keine Atheisten? Niemals. Deswegen war die DDR für mich ein soziales, aber kein existenzielles Versprechen. Ich habe früh geahnt, dass uns an der Filmhochschule der Existentialismus vorenthalten wurde. Wir bekamen eigentlich glänzende Ausbildungen von Shakespeare bis Gorki. Aber Kafka war lange verboten. Ich habe mich dann für die Demokratie im Westen entschieden, weil sie menschenfreundlich ist, weil sie menschenfreundlicher ausfällt.
Da wir uns mit der Kontingenz in „Die Selbstverbrennung“ beschäftigt haben – in wiefern hat dieser Bezug zur Kontingenz etwas Relativierendes in Bezug auf das je eigene Leben und Handeln? Das glaube ich nicht. Gestern Abend saß ich am Tisch. und dann habe ich auf den Kerzenleuchter geguckt und zu mir gesagt: „Ich sehe jetzt diesen Kerzenleuchter und zwar ich in meiner Unerlöstheit. Ich bin als Subjekt ganz allein. Ihr seid die anderen.“ Dieses Pascalsche Erschrecken passiert dadurch, dass man plötzlich merkt, wie der Kleist sagt: „Eine Ewigkeit fliegen wir aufeinander zu, drei Frühlinge lieben wir uns und eine Ewigkeit fliegen wir wieder auseinander.“ Allein die Tatsache, dass vor meiner Existenz die Welt für mich nicht da war und nach meiner Existenz die Welt wieder für mich nicht da sein wird, heißt: Dass ich „ich“ bin. Das ist ein absolutes Gefühlt. Das heißt, in dem Augenblick, wo ich mein Bewusstsein verliere, ist die Welt weg. Da bin ich auch weg. Aber die anderen sind alle noch da. Das was Max Beckmann sagt: „Das Ich ist das größte Geheimnis der Welt“, dass man sein eigenes Ego qualifizieren aber nicht quantifizieren kann… Und da habe ich so auf diesen Kerzenleuchter geguckt und habe gedacht: „Mensch, Ich sehe den Kerzenleuchter, ich kann aber nicht zu mir. Ich sehe meinen Magen nicht. Aber ich weiß ganz genau: irgendwann ist das vorbei und dann ist dieses ganz große Wunder weg, also dass ich den Kerzenleuchter sehe und dann weiß ich auch nicht mehr, dass ich den Kerzenleuchter sehe.“
Haben Sie Angst vorm Tod? Den Brecht haben sie mal gefragt, ob er Angst vorm Tod hat und dann hat er ja was Schönes gesagt. Er habe keine Angst vorm Tod, denn wenn er selber nicht mehr da ist, vermisst er auch nichts mehr. Trotzdem ist dieser Kontingenzgedanke zeitlebens so, dass man die billige Aufrechnung dieses Geheimnis`, dass ich „ich“ bin, dass ich die Welt phänomenologisch erzeuge, dass ich vorher nicht war, dass ich hinterher nicht bin. Das ist ein Gedanke der kontingent ist. Ich gehe heute schon so weit, dass ich große Mühe habe zu schreiben, weil ich der Meinung bin; wenn die mir sagen, dass sie irgendwie auf einem Kometen landen, dann ist mir völlig klar; irgendwann ist das Ganze alles zu Ende. Dann verdampft alles und wir haben überhaupt keine Chance. Und wenn wir die Kontingenz so hochrechnen, dass das, was wir jetzt sehen, das Universum ist, aber auch etwas, das wir gar nicht begreifen wir können. Wir können keine kosmische Zeit empfinden. In der Art, wie es Leibnitz sagt: warum es überhaupt „Sein“ ist und nicht viel mehr „Nichts“? Ob das nicht nur ein Augenblick des Zufalls ist. Wie wenn Sie draußen eine Ulme sehen und die Ulme hat Blätter, aber ein Blatt ist unverwechselbar, das gibt es nur einmal und wenn das runterfällt… Also, das hat die Form seiner Zufälligkeit an sich, und wenn ich diesen Gedanken habe, dass… Das hat mich bei Engels immer gewundert in der Dialektik der Natur. Die waren so materialistisch froh gestimmt. Dann hat der gesagt: „Irgendwann wird die Welt sowieso als Leichnam da sein.“ Das hat mich immer gewundert, warum der Materialismus diesen Kontingenzgedanken nicht mit hineingenommen hat. Ich sitze. Ich sehe. Je älter ich werde, desto mehr staune ich darüber, dass ich übermorgen nicht mehr da sein werde.
Warum glauben Sie dann nicht an Gott? Würden Sie gerne glauben? Das: ja.
Was hindert Sie? Gott ist sozusagen ein Phänomen, eine Bewusstseinsfrucht. Ich bin Rationalist geblieben. Deswegen habe ich immer um diesen Gottesglauben gerungen, so wie Pascal gerungen hat. Gott würde mir helfen, wenn ich fähig wäre, in die Transzendenz zu flüchten und zu sagen: die Transzendenz hebt meine Kontingenzverfasstheit auf. So wie Pascal, der gesagt hat: „Wer bin ich denn dann, wenn ich diese Unendlichkeit sehe? Wenn ich jetzt nicht ins Christentum flüchte, bin ich verloren.“ Das gelingt mir nicht. Da bin ich immer noch rationalistisch. Deshalb sagt mir Heidegger mehr, wenn der formuliert, dass ich grundlos geworfen bin. Das Einzige, was ich eben nicht kann ist, diese Grundlosigkeit als Schuld zu übernehmen und sie dann abzuarbeiten. Diese Gedanken muss man sich nicht machen. Es vollzieht sich an einem ja doch das, was sozusagen die Verfasstheit definiert. Insofern muss man die Sublimationsbemühungen nicht schaffen. Sie sind nicht zwingend.
Also auch nicht wünschenswert? Aber sicher! Ich beneide alle die beten und fromm sind. Ich bin großer Verfechter der Lebenslüge der „Wildente“ von Ibsen. Für mich ist es das größte Stück überhaupt. Also, jeder muss die Unvereinbarkeit seiner Existenz sublimieren. Wenn Sie feststellen, Sie können nicht Klavierspielen und Sie möchte aber Klavier spielen, dann werden Sie das so lange machen, bis Sie glauben, Sie können Klavier spielen. Aber Sie können es immer noch nicht. Das ist eine Sublimationsleistung. Das kann man machen. Und der Gottesglaube, die Religion, die Flucht in die Religion ist das Gleiche, durch die Angst vor dem Sterben, die Angst vor dem Geheimnis der eigenen Kontingenzverfasstheit… Dann haben die eben Religion gemacht, das dann konfessionell festgemauert und dann kamen die ins Gesellschaft-Politische, ins Machtgefüge. Dann waren das plötzlich keine Religionen mehr, sondern konfessionelle Verfasstheiten.
Religion ermöglicht Kontingenzbewältigung. Das zeigt auch Ihr Roman „Die Selbstverbrennung“ aus dem Jahr 1982. Eine andere eben dort vorgestellte Form von Kontingenzbewältigung ist die Liebe – die in einem F.A.Z.-Artikel kürzlich als neue Religion beschrieben wurde. Hat die Liebe nicht alles, was eine Religion braucht: vom Erlösungsversprechen bis hin zu den Sakramenten? Die Liebe hat den Unendlichkeitsgedanken und die Unendlichkeitsgewissheit. Man will ja nicht vergehen wie der Rauch. Das ist auch die Quintessenz der Religion: das ewige Leben. In der „Selbstverbrennung“ hat mich immer eine einzige Figur wirklich zutiefst berührt, ich hab die bewundert; das ist die Frau, die Elfriede. Die macht sich diese Sorgen nicht. Wenn der Baum blüht, ist das Gottes Baum. Und dann kommt der Mann, guckt die Sterne und sie sagt, er solle das sein lassen. Wenn du nicht begreifst, dass es Gottes Sterne sind, dann sag das, aber halt es aus. Wenn nicht, dann lass es sein. Das ist das Pascalsche Erschrecken. In der Selbstverbrennung ist es so: Mich haben nach dem Marxismus drei Leute beeinflusst. In Nietzsches Briefen habe ich gelesen wie das Subjekt, wie das überdimensionale Ego, wenn das nicht zur Befriedigung kommt, wie es rum rast, und zwar solange, bis es dem Wahnsinn verfällt. Da habe ich gemerkt, wie unerlöst ein Subjekt sein kann, und dann habe ich das bei mir auch ein bisschen entdeckt. Das nächste war Kafka, der merkwürdige Visionen hatte, die er überhaupt gar nicht erklären konnte. Wenn bei dem „Der neue Advokat“ einfach sagt, also der neue Advokat, wenn der da die Treppe hochgeht, merkt man noch, dass er das Pferd von Alexander dem Großen war. Da ist die Zeit aufgehoben, da ist eine Kontinuität, eine Sublimationsleistung… Kafka hebt die Zeit auf und dann ist es völlig egal, ob man als Käfer aufwacht oder so. Der Dritte und Wichtigste ist Pascal. Der war Naturwissenschaftler, kundig in der Astronomie und hat plötzlich die Unendlichkeit gesehen. Dieses Gefühlt hatte ich auch. Ich war immer außengeleitet. Denn der Hegelsche Vernunftbegriff ist ein außengeleiteter; das heißt, der Begriff muss zu sich selber kommen und das Erkennen an sich ist der Vorgang.
Das müssen Sie bitte erklären. Ich habe die Welt immer wie in einem Film gesehen, der Art: „Oh, das hier ist ja irre und da ist Marxismus und da ist das und hier war das und in der Geschichte war das. Ich habe das mal verglichen mit jemandem, der immer ins Kino geht, weil er unglaublich objektivgeil ist und irgendwann merkt der, wenn er in den Spiegel guckt, dass er sich verändert hat, dass er Subjekt ist, und dass er, während er sich die Welt anguckt, verschwindet. Jetzt hat der Pascal gesagt: „Und wer bin ich?“. Seine Antwort war: „Ich bin ja gar nichts.“ Daraufhin hat er Fragen gestellt, die immer noch aktuell sind: Warum war ich jetzt und nicht früher oder später? Warum bin ich hier und nicht da? Warum bin ich eine Ewigkeit vorher nicht gewesen und eine Ewigkeit hinterher? – Da können Sie ihr Subjekt natürlich wegschmeißen und entgegnen: „Also, das ist halt so!“ Viele Maler haben gesagt, „Schmeißen wir das Subjekt weg und fangen an zu beten.“ Aber wenn Sie das nicht können, dann stürzen Sie.
Die große Angst des Søren Kierkegaard. Der konnte überhaupt nicht leben, wenn es Gott nicht gäbe. Der hat immer überlegt: „Gibt es Gott oder gibt es Gott nicht?“ Für ihn stand fest: „Ich kann ohne Gott nicht leben.“ Also hat er Gott gefunden. Das ist eine Sublimationsleistung. Alle Religionen sind große, kulturhistorische Sublimationsleistungen – durch die die Kontingenzschranke überspringen wird. Mit der „Selbstverbrennung“ habe ich tatsächlich gedacht, ich könnte Pfarrer werden; aber ich müsste Gott dennoch den Vorwurf machen, dass er das Bewusstsein zugelassen hat… Die Lilie im Felde – das ist so wunderbar in dem „Seidel“, der hat unglaublich gelitten unter dem Bewusstsein. Der hat immer gesagt: „Die Lilie auf dem Felde lebt. Die Birke lebt. Die entwickeln sich. Aber die wissen nichts davon. Die können ihre eigene Verfasstheit gedanklich nicht übersteigen. Die wissen nicht, dass sie sterblich sind, während ich in meiner Begriffsmöglichkeit voraus marschiere und dann höre ich, wann der Berliner Flughafen aufgemacht wird und denke: „Da bin ich vielleicht gar nicht mehr da.“ Um diesen Gedanken wegzubringen, müssen Sie die Lilie auf dem Feld sein, die sich darüber keine Gedanken macht. Oder die Katze. Wir haben drei Katzen sterben sehen – ich bin ein großer Katzenfreund – und dann musste ich sie zum Arzt bringen musste, weil sie eben heillos krank waren. Aber verstanden, was gleich passieren wird, das haben die nicht.