Andrea Maria Schenkel, vor 17 Jahren bekanntgeworden mit ihrem Krimi-Bestseller „Tannöd“, veröffentlicht eine weitere Kriminalgeschichte früherer Zeiten. In „Der Erdspiegel“ wird der sogenannte Mädchenschlächter Andreas Bichel aus Bayern vorgestellt. Bichel ermordete Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere junge Frauen – doch muss diese Geschichte tatsächlich auf diese grausame Art und Weise berichtet werden?
Bekanntlich erreichen die Gerichtsgeschichten Ferdinand von Schirachs eine weltweite Millionenauflage. Bände wie „Verbrechen“, „Schuld“ oder „Strafe“ haben einen True Crime-Boom ausgelöst, der Literatur, Podcasts und zahlreiche Streaming-Dokumentationen umfasst. Doch schon Mitte des 18. Jahrhunderts elektrisierten die historischen Strafrechtssammlungen des französischen Juristen François Gayot de Pitaval. In Deutschland fanden sie ihren prominentesten Nachahmer Anfang des 19. Jahrhunderts, als Paul Johann Anselm von Feuerbach seine „Merkwürdigen Criminal-Rechtsfälle“ veröffentlichte, darunter auch die Geschichte des sogenannten „Mädchenschlächters“ Andreas Bichel aus Bayern. Der hat zwischen 1806 und 1808 mehrere junge Frauen in seinen Schuppen gelockt, eben da ermordet und zerstückelt, darunter Katharina Seidel auf Regendorf.
„Der Bichel wollte sie in den Erdspiegel sehen lassen. Seit einer gefühlten Ewigkeit wartete Katharina darauf. Vor mehr als einem Jahr hatte er den Spiegel vergraben. Am Fuße des Kalvarienberges. Genau an der Kreuzung. Dort, wo der eine Weg hinüberführt zur Kapelle und der andere den Leidensweg hinauf zum Christus am Kreuz. Am Anfang war ihr das seltsam vorgekommen: Wie sollte ein vergrabenes Stück Glas die Zukunft vorhersagen? Zudem plagte sie ihr Gewissen. Ob sie wohl eine Sünde begehen würde, wenn sie in den Spiegel sähe?“
Empfindsam und wunderlich
Mit diesen Worten beschreibt Andrea Maria Schenkel jene ausgelegte Falle, die in ihrem historischen Kriminalroman „Der Erdspiegel“ ausgelegt wird. Entlang des bereits umfangreichen Berichts Paul Johann Anselm Feuerbachs werden die gutgläubigen Opfer des Serienmörders vorgestellt, empfindsame, wunderlichen Erscheinungen zugetane Frauen. Sie lassen sich einfangen von jenem scheinbar wahrsagenden Spiegel, der angeblich sogar zeigen kann, wo sich der heiß ersehnte Geliebte aktuell aufhält. In magischen Zeiten erscheint also nicht nur die Existenz eines allwissenden Gottes wahrscheinlich, sondern eben auch besagter Erdspiegel. Bei so viel Wunderlichem scheint alles möglich. Daher konnte ein Gutsbesitzer wie Andreas Bichel als erzählender Rattenfänger auftreten, der nicht nur sehnsüchtige Frauen mit seinen Märchen beeindruckte.
„Ein jeder wusste, dass er erzählen konnte und es verstand, die Leute in seinen Bann zu ziehen. Dabei spielte es keine Rolle, ob ein studierter Herr oder eine Magd seine Zuhörer waren. Der Bichel fand immer die richtigen Worte. Er ließ sich einen frischen Krug Bier bringen, positionierte sich mit breiten Beinen auf der Bank. Er zog seine Schnupftabakdose aus der Joppentasche, und nach einer genüsslichen Prise und einem kräftigen Schluck fing er an.“
Die blumigsten Ausreden
So erzählt Andrea Maria Schenkel eine Kriminalgeschichte über Geschichten, die aus verbrecherischen Gründen ersonnen wurden. Todbringend werden sie, weil zu jener Zeit realistische und fiktive Erzählungen gegeneinander austauschbar waren. Eine junge Frau nach der anderen wird von Bichel herangelockt und auf bestialische Weise hingerichtet, nur einige wenige werden misstrauisch und entkommen so ihrer bestialischen Ermordung. Erst nach längerer Zeit nimmt das Gericht die rechte Fährte auf und setzt Bichel fest, der nun abermals versucht, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen – indem er noch einmal die blumigsten Ausreden erdichtet.
„Wie er so vor dem Richter stand, sah der Bichel nicht aus wie einer, dem die Gemeinheit aus dem Gesicht sprang. Wäre dies der Fall gewesen, wäre die Sache eine einfachere. ‚Selbstverständlich bin ich bereit Rede und Antwort zu stehen’, sagte der Bichel freundlich. ‚Auch wenn ich nicht im Mindesten den Grund für meine Verhaftung kenne. Ich bin ein ehrlicher Mensch, ich habe in meinem ganzen Leben keinen betrogen. Sie können gern Erkundigungen über mich einholen. Dann werden Sie sehen, dass ich nicht lüge.’“
Ohne Gnadenakt
Die Leser kennen indes die Wahrheit, denn explizit wird in Schenkels „Der Erdspiegel“ dargelegt, auf welche Weise die Opfer ermordet wurden; in expliziter, geradezu gewaltpornographischer Grausamkeit. So fällt diese literarisierte Fassung hinter den psychologisch komplexeren, über 200 Jahre vorher entstandenen Bericht des Juristen Feuerbach zurück. Der nahm den Fall des Andreas Bichel zum Anlass für eine kluge Reflexion über die Zusammenhänge von körperlicher Grausamkeit und sexueller Begierde. Schenkels Fassung erscheint grobschlächtig gegenüber dem Ursprungstext, blutdürstig bis zum Schluss, wenn der Frauenmörder verurteilt wird. Alle Knochen sollen ihm bei vollem Bewusstsein gebrochen werden, ohne Gnadenstoß.
In der Wirklichkeit wurde diese Strafe herabgesetzt. Bichel starb durch Enthauptung, „nicht aus Schonung des Verbrechers“, schreibt Feuerbach, „aber aus Rücksicht auf die sittliche Würde des Staats, welcher es nicht gemäß ist, durch Grausamkeit der Strafen mit der Grausamkeit und Abscheulichkeit eines Missetäters gleichsam wetteifern zu wollen.“ Andrea Maria Schenkels Roman verschweigt diesen Gnadenakt und wetteifert stattdessen mit eben jener Grausamkeit. Ihrer Geschichte fehlt eine subtile Form der Transzendenz. Der ursprünglichen Fassung Paul Johann Anselm von Feuerbachs wird poetisch nichts hinzugefügt – und so steht das gesamte, unnötig abscheuliche „Erdspiegel“-Unterfangen auf literarisch tönernen Füßen.
Andrea Maria Schenkel: „Der Erdspiegel“, Kampa, Zürich, 192 Seiten, 22 Euro