Großes Sterben auf der Scholle: „Der lange Gang über die Stationen“ erzählt von einer tristen, toten Bauernehe. Das ist hochgelobte Literatur, ausgezeichnet mit dem Jürgen-Ponto Preis 2007.
Die einfachsten Menschen leben oft in den kompliziertesten Verhältnissen. Das gilt auch für den österreichischen Viehbauer Theodor, der beim langen Gang über die Stationen seiner Ehe ins Stolpern gerät. Karg und entbehrungsreich sind die Jahre auf dem elterlichen Gut, in einem kleinen, engstirnigen Dorf, wo die Woche mit dem „Tag des Herrn“ und morgendlichem Kirchbesuch beendet wird. Zum Frühstück gibt es trockenes Brot und Malzkaffee. Das Arbeitsleben ist unterteilt in Säen, Wachsen und Ernten. Grenzsteine markieren Acker- und Existenzlinien. Eltern und Kinder leben selbstverständlich bis zum Tod unter einem Dach. Irgendwann hängt sich jemand auf: „Sein Kopf war rot und blau, alle Farben, dachte ich.“
Der Pfarrer lässt sich nicht erweichen: „Einen Selbstmörder, wiederholte er, segne er nicht ein, er dürfe das gar nicht, ich solle im Katechismus nachlesen und ihm, dem Vielbeschäftigten, nun endlich seine Ruhe lassen.“ Ruhe, Meditation, stilles Schauen stehen in diesem Roman Fegefeuer-Abgründen, Hass, Tod und Verzweiflung gegenüber. Theodor hat zu Beginn des Buchs geheiratet, eine Frau aus der Stadt, die zart, flüchtig ist. „Ich sah ihr zu, aber dennoch sah ich sie auf eine Weise auch nicht, ich sah nur eine Silhouette, die sich bewegte.“ Mit ihr soll alles anders werde, denn „wenn erst Kinder da sind, dachte ich bei mir, wie würde die Mutter, Großmutter geworden, mit einem Mal aufblühen.“ Doch seine Hoffnungen zerschlagen sich.
Diese städtische, unabhängige Frau ist das Gegenstück zum gottesfürchtigen Theodor. Sie steht für Moderne, Lust und Leidenschaft. Er sieht in ihr die Mutter, Maria, die melancholische Weggefährtin seines harten Lebens. Aber sie will raus. Sie will etwas erleben. Sie möchte ihre Freunde, ihren Liebhaber, ihre Familie in der Stadt besuchen. Theodor kann nur tatenlos zusehen, stumm schauen: „Ich hatte sie auch nicht gefragt: Hast du einen Geliebten? Bist du wieder bei ihm gewesen? Oder: hast du das Kind wegmachen lassen? Bist du deshalb dauernd dahin, weil du zur Engelmacherin gehst?“
Theodor ist kein moderner Agrarökonom mit Abitur und kombinierten BWL-Biologie-Studium. Sein Verständnis artgerechter Tierhaltung beschränkt sich auf einen Schweinestall, der von Betonwänden umgeben ist, damit es im Winter nicht allzu stark zieht. Er betrachtet die Natur und fügt sich ihrem Lauf. – „Eines Morgens war er nicht mehr aufgewacht, war entschlafen, mein Großvater, mit dem ich kaum mehr als ein paar Tage Lebenszeit gemeinsam habe.“ So denken Menschen, die sich als Winzling im großen Spiel des Lebens begreifen, die bescheiden leben, beten, sparen, schuften. Freude kennt dieser Mann anscheinend nicht. Kein Wunder, dass seine Frau ihm abhanden kommt. „Warum gefällt es dir nicht mehr, mich anzufassen?“
Es ist eine todtraurige Geschichte, die später katastrophale Wendungen nimmt, im chaotischen Wien, in der grellen Disco, im unübersichtlichen Jetzt, weit weg von dem, was gut ist. „Die Bauern auf den Feldern, die Unkraut auszogen; Dinge, die ich gerne sah, weil ich sie kannte.“ So klingen Modernisierungsverlierer. – In diesen lauwarmen Septembertage ist der Spätsommer angebrochen. Es ist, immer wieder, eine melancholische Zeit. Abschiednehmen. Zwetschgenkuchen auf der Terrasse, im Sonnenlicht schimmernde Spinnweben, das letzte, tiefe Grün der Bäume, raschelnd im Wind, aus dem später dunkel rauschende Herbststürme werden. Die Nacht bricht früh herein. In jenen Stunden ist „Der lange Gang über die Stationen“ die denkbar schönste Begleitung. Reinhard Kaiser-Mühleckers Erzählton strahlt spätsommerliche Ruhe aus. Es gibt kleine, sanfte Bilder, die überraschen, bei einem 1982 geborenen, überaus jungen Schriftsteller: „Öfter schon – wie etwa dieses erste Mal, als ich auf dem Hügel gesessen war und in den Himmel gesehen hatte und der Blick, der wie hängen geblieben war, und zwar hängen geblieben auf halber Strecke zwischen Himmel und Erde – hatte ich gedacht: Irgendetwas ist passiert, irgendetwas ist anders geworden.“ So klingt ein erholsamer, kleiner und kluger Text über das große Leben.