In diesen Tagen denken insbesondere Eltern nach über die Tagesgestaltung ihrer Kinder. Es gibt neumodische Podcasts, Lern-Apps und das öffentlich-rechtliche Kinder-Fernsehprogramm wie „Die Sendung mit der Maus“. Gleichzeitig werden lang vergangene Konzepte wiederentdeckt, wie der Hausunterricht, eigentlich untersagt seit dem sogenannten „Reichsschulpflichtgesetz“ im Jahr 1938. Noch weiter zurück reichen jene Kinderspiele, die bis 1899 gesammelt wurden von der britischen Illustratorin Kate Greenaway. „Book of Games“ hieß die Sammlung ursprünglich – „Kinderspiele“ heißt die gerade im Insel-Verlag erschienene Sonderausgabe. Es ist ein interessantes Buch – doch es gibt Diskussionsbedarf.
Mit Kinderbüchern wurde Kate Greenaway lange vor ihrer Kollegin J.K. Rowling wohlhabend, wenngleich in bescheidenerem Umfang. 1846 wird sie als Tochter des Zeichners und Holzschnittkünstlers John Greenaway in London geboren. Im Alter von zwölf Jahren ist sie Preisträgerin der „South Kensington School of Art“. Zehn Jahre später folgt ihre erste Ausstellung.
Der Durchbruch kommt 1878 mit „Under the Window“, Greenaways ersten Kinderbuch, das sich bereits zu Lebzeiten über 100.000 Mal verkauft. Im Jahr 1899, zwei Jahre vor Greenaways Tod, erscheint das „Book of Games“, mit 80 liebevoll illustrierten Kinderspielen; vom noch heute bekannten Teekesselchen über Blindekuh und Federball bis zu kurioseren, klar zeitgebundenen Ideen wie dem Soldaten-Spiel:
„Die Spieler sitzen im Kreis und einer geht herum und singt: ‚Hier kommt ein Soldat aus dem Land der Kanonen, was gebt ihr ihm denn zum Essen und Wohnen?’ Bei den Antworten dürfen die folgenden Wörter nicht benutzt werden: Brot, Bett und Haus. Wer es dennoch sagt, muß ein Pfand geben.“
An Beispielen wie dem gerade gehörten wird deutlich, dass einige Spielideen im Jahr 2020 schwer umsetzbar sind, aus Gründen der sogenannten „political correctness“. Und doch gibt es zahlreiche Gründe, die das Buch „Kinderspiele“ empfehlenswert machen, beginnend beim nostalgischen Aspekt. Bereits der Titel „Mariechen-ging-zum-Melken-Spiel“ ist in Zeiten sogenannter Milchfarmen anrührend. Zugleich wird erläutert, wie Seilspringen funktioniert, das Spiel mit Puppen, auch das Ball-Spiel:
„Das Ballspiel ist sehr alten Ursprungs, und es gibt viele Arten, sich daran zu vergnügen. Die Spieler stehen in gewissem Abstand im Kreis und werfen sich den Ball zu. Die Kinder, die den Ball nicht fangen, müssen in der Stellung verharren, in der sie den Ball verfehlten. Am Schluß des Spiels gibt der Kreis ein sehr komisches Bild ab. (…) Man kann das Spiel weiter abwandeln, indem man den Ball auf dem Boden aufprallen lässt, bevor er gefangen wird, oder man wirft ihn gegen eine Wand.“
Kate Greenaways Buch erinnert stellenweise an Umberto-Eco-Satiren, in denen erklärt wird, wie man Indianer spielt oder wie man ein Eis isst. Gleichzeitig wird erinnert, welchen ebenso weiten wie rasanten Weg das Kinderspiel in den vergangenen 120 Jahren genommen hat.
Ohne leistungsstarke Grafikkarte, Dual-Core-Prozessor und zahlreiche Gigabyte Festplattenkapazität können die meisten Spiele unserer Zeit nicht durchgeführt. In Kate Greenaways „Kinderspiele“ werden dagegen Minimalrequisiten eingesetzt: Fingerhüte, Dilldopp-Kreisel, Murmeln, häufig nur die Sprache, beispielsweise um Sprichwörter zu erraten, Wortreihen fortzusetzen oder um eine besonders perfide Art kindlicher Ausgrenzung zu inszenieren, wie beim Wahrheits-Spiel, das tief im Teich der schwarzen Pädagogik fischt:
„Ein Spieler geht aus dem Zimmer, während die anderen jeder auf seinen Zettel ihre Meinung über ihn aufschreiben. Zum Beispiel schreibt einer: ‚Er ist sehr eingebildet!’ Ein anderer schreibt: ‚Sehr freundlich!’ und so weiter. Dann wird der Hinausgeschickte vorgeladen, und ein Mitspieler liest die verschiedenen Meinungen über ihn laut vor. Der Spieler muss raten, wessen Meinung es ist.“
Dieses Beispiel zeigt, dass früher keineswegs alles besser, sehr vieles deutlich schlechter war als heute. Man kann trefflich darüber streiten, ob es geschickt war vom Insel-Verlag, Greenaways „Kinderspiele“ ohne Nachwort zu veröffentlichen. Seinen herausgehobenen Charme entwickelt das Buch allerdings durch seine Illustrationen. Es könnte interessant sein, die eigenen Kinder zu fragen, welche Art des Spiels sich verbergen könnte hinter einer Abbildung, die fünf artige Mädchen, teilweise mit Haube, vor einer Gartenmauer zeigt, einer vor ihr stehenden Kameradin zuhörend.
Kulturhistorisch ist dieses Buch relevant und durchaus geeignet, eine zeitlich überschaubare, ideologisch jedoch weit entfernte Epoche vorzustellen, insbesondere jetzt, wo viel gesprochen wird von Konzepten der sogenannten „Rückbesinnung“, als sei früher alles besser gewesen, als Kinder alleingelassen wurden mit Fingerhut, Ball und Springseil – und der Empfehlung, sich gegenseitig zu evaluieren. In Kate Greenaways „Kinderspiele“ steckt mehr Diskussionsbedarf, als man hinter dem lieblich himmelblauen Pappcover vermuten würde.
Kate Greenaway: „Kinderspiele“. Aus dem Englischen von Ingrid Westhoff, Insel Verlag, Berlin, 68 Seiten, 10 Euro