Der unsympathischste Romanheld dieses Herbstes lebt in Mauricio Borinskis „Arschloch!“-Debüt. Mitleidlos wandert hier ein schöseliger Call-Center-Agent durch eine Welt, die aus Fäkalsprache, Sexismus, Hass und nichtigem Celebrity-Klatsch besteht.
Es gehört zu den Trivia popkultureller Bildung, dass Rap-Held „LL Cool J“ sein Pseudonym als Abkürzung von „Ladies Love Cool James“ verstanden wissen will. In „Arschloch“ taucht mit dem 24-jährigen Moritz Becker ein ähnlich selbstbewusster Zeitgenosse auf, der sich ein „MB“ als Nummernschild ausgesucht hat – „MB sind zum einen meine Initialen, zum anderen stehen sie für My Balls. Meine Karre. Meine Eier.“ Außerdem sind diese beiden Buchstaben auch die Initialen des Romanautors Mauricio Borinski, dem man aber weniger Sozialdarwinismus als seinem Helden unterstellen sollte. Denn Moritz Becker ist schlicht und ergreifend nichts anderes als das titelgebende „Arschloch“, ein mieser kleiner Call-Center-Fuzzi, der Meerschweinchen in der Waschmaschine quält, Kriegsfoltervideos anschaut und Telefonstreiche auf Kosten labiler Kolleginnen anzettelt.
Der erbarmungslose Roman erzählt in Tagebuchauszügen das Jahr 2005 nach, schickt Moritz Becker durch eine Alltagsodyssee, an deren Ende keine Läuterung, kein höherer Sinn, keine Erkenntnis stehen wird. Der junge Mann ist, hier den Figuren des antiken Theaters ähnlich, ein unveränderlicher Typus, der so ist und bleibt, wie er vorgestellt wurde. Tagsüber verkauft er am Telefon „Spielzeug, Fan-Artikel, Postkarten, Poster, Kostüme, Masken, Partyzubehör und ein paar elektrische Geräte für den privaten DJ-Bedarf.“ Abends lädt er scheinheilig zur heimischen „Charityparty“ für Tsunamiopfer ein, fälscht anschließend den Spendenbeleg und streicht die Kohle selber ein. Schuld? Dieses Wort kennt Moritz nicht, sein Leben ist ein Egoshooter-Spiel, andere Menschen lediglich Statisten auf seinem Weg zum Game-Highscore.
Realität ist für den (Anti-)Helden ein äußerst dehnbarer Begriff. Menschen werden grundsätzlich mich Stars verglichen, Frauen sehen wahlweise aus wie Claudia Schiffer, Sarah Kuttner oder Eva Hermann, Typen erinnern ihn an Oliver Pocher, Robert de Niro oder DJ Tommekk. Er filmt sich selbst beim Onanieren, gemeinsam mit Huren, One-Night-Stands und Partymäuschen während obskurer Vergewaltigungsspiele. Hitler, SS und Gangbangs beschreiben einen überaus düsteren Lebenshorizont, begleitet von einem sehr bizarren Interesse an Ausscheidungen verschiedenster Art: „Wenn ein Schmetterling einen Orkan auslösen kann, bin ich gespannt darauf, was auf meinen Furz folgt.“ – Der Klappentext deutet es schon an: „Mauricio Borinskis Debüt ist ein knallharter Roman für eine Welt, die aus American Psycho, Elementarteilchen und 39,90 nichts gelernt hat.“
Mauricio Borinski wurde 1978 in Siegen geboren und ist im brasilianischen Rio de Janeiro und in Dortmund aufgewachsen. Während seines Biologiestudiums in Münster, „der lebenswertesten Stadt der Welt“, arbeitete er unter anderem für mehrere Jahre in einem sogenannten „Inbound Call Center“, bei dem die Kunden selbst anrufen (es war also kein Telefonspam). Wie viele ist er durch unerwünschte „Outbound Call Center“-Anrufe, durch Fernsehen und natürlich die allgegenwärtige Werbung genervt. Mauricio ist Diplom-Biologe. Nach unterschiedlichen Tätigkeiten in der Gastronomie und mehreren Praktika an verschiedenen naturwissenschaftlichen Instituten arbeitet er nun am Aachener Universitätsklinikum.
Mauricio Borinski: „Arschloch!“, Edition Totengraeber, 240 Seiten, 13 Euro