Pop-Feministin Kerstin Grether erzählt in ihrem neuen Roman „An einem Tag für rote Schuhe“ von Slutwalks, Amy Winehouse und Riot-Grlll-Mobbing an Gymnasien.
„Oh Gott, ich war 32 Jahre alt, und obwohl man mich noch zur Jugend zählte, war ich eine dieser ‚normalen‘ Mitte-Frauen geworden – oder immer schon gewesen? –, die in der einen Handtasche eine Zukunft in magenta-roten Schleifchen und in der anderen ihre blau-weiß-karierte Gegenwart spazieren führten.“ Die etwas weniger als Lady Gaga verrückte Lilly befindet sich in der Berliner Komfortzone, obwohl sie sei einer Woche von ihrem Freund Ivor getrennt ist, was wiederum eine geradezu klassische Popliteratur-Ausgangsposition ist, ein Pop-Standard. Mit dem Verlassenwerden beginnen viele Geschichten dieses Genres wie „Soloalbum“ (Benjamin von Stuckrad-Barre) oder „High Fidelity“ (Nick Hornby).
Single-Sein bedeutet Frei-Sein, mit allen Konsequenzen. Es bedeutet aber auch: empfindlich, verletzlich, einsam dastehen in der großen Welt und sich beherrschen, damit vor lauter Freiheit keine Sicherungen durchknallen. Da Ivor gerade das neue Album von Lillys Band „Café Prag“ (392 Likes auf Facebook) produziert, herrscht in Kerstin Grethers Roman Burgfriede, es gibt kaum Zickereien. Aus dieser gechillten Lage trifft Lilly auf die linksfeministische und zungengepiercte Bloggerin Jasmina, die ein paar Jahre jünger ist, mit ihrer Zwillingsschwester aufs Gymnasium geht und allein durch ihren Namen, man denkt hier automatisch an die „Jasmin-Revolution“ 2010 in Tunesien, sinnbildlich für den Aufstand steht: „Jasmina war froh, dass Deutsch auf dem Stundenplan stand. Schrift und Sprache, Text. Das beruhigte. Es brachte ganz andere Formen von Ordnung hervor. Jasmina wollte gerne in neuen Kategorien, in anderen Denksystemen denken. Jasmina wollte erlöst werden von der Unordnung ihres Systems.“
Ihr „System“ besteht aus immerzu kreisenden Gedanken, die sich fragen, ob wir in einer Vergewaltigungsgesellschaft leben, wie wir mit unserem Unmut an Institutionen wie „Bürgerämter, Finanzämter und Schulen“ passen. Es bedeutet aber auch, dass dieses Anders-Sein beargwöhnt wird, dass gerade die andere Frau Attacken ausgesetzt ist. „Mobbing ist eben die Art, wie Arschlöcher ihre Bewunderung ausdrücken.“ Doch auf dem Schulhof nützt die Haltung wenig, wenn es zu viele „Bewunderer“ gibt und zudem stumpfe Lehrer behaupten: „an der Schule ist eben nicht der Individualismus das Maß der Dinge, sondern die Regeln der Gemeinschaft“, die angeblich schon verletzt werden, wenn Zwillinge ihre Klamotten selber nähen, worauf Lilly gegenüber dem bornierten Lehrer kontert: „Es kann ja nicht jeder den H&M-Einheitsdress, made in Bangladesh by ausgebeutete Näherinnen, tragen.“ Als Lilly wenig später ebenfalls in eine Mobbingsituation gerät, wird die Freundschaft dieser beiden Frauen radikal. Die beiden schmieden eine Allianz, tauschen gegenseitig erniedrigende Erfahrung aus, berichten plötzlich von zuvor geheim gehaltenen sexuellen Übergriffen.
Sie debattieren über große Nachrichtenmagazine, in denen ständig „der Kampf für Frauenrechte lächerlich gemacht“ wird. Sie fragen sich, wie man mit einer Gegenwart umgehen sollte, in der „sexualisierte Aggressionen auf der Ebene von Mutproben gehandelt werden.“ Losungsworte sind dann: „My dress ist not a yes“, wie man es auf den Slutwalks liest und hört, wenn Frauen in knappen Klamotten durch die Straßen ziehen und in einer radikaleren Girl-Power-Haltung für Akzeptanz kämpfen: „Meine Strumpfhose ist blickdicht, Mein Körper sagt Fick-Dich! Ich will deinen Blick nicht. Ich will auch keinen Schluck aus deinem Bier! Dies ist kein Spiel. Mein kurzer Rock hat nichts zu tun mit dir.“ Lilly und Jasmina beschließen, nicht mehr „Fußabtreter für die bösartigen Launen“ ihrer Mitmenschen zu sein. Sie spüren so viel Gewalt am eigenen Leib, dass dagegen entweder noch mehr Gewalt oder eine radikal smarte Strategie helfen kann: „So viele, Abertausende, wahrscheinlich Hunderttausende weltweit, die auf die Straße gehen. Oder Indien, wo große Teile der Gesellschaft plötzlich gegen Vergewaltigungskultur aufstehen.“
Kerstin Grether: „An einem Tag für rote Schuhe“, Ventil Verlag, 364 Seiten, 16,90 Euro
Das Beitragsbild ist von Maria Tokyo