Judith Hermanns Sprache schwebt. Judith Hermann selbst schwebt irgendwann, während sie die Erzählung „Aqua Alta“ liest. Ihre Beine sind unter dem Tisch übereinandergeschlagen. Doch selbst als beide Füße hinter jeweils einem Stuhlbein verschränkt sind, berühren ihre Sohlen den Boden.
Die Autorin sitzt auf der Kante und wirkt, als wolle sie jederzeit aufspringen, den Saal verlassen. Erst zur Mitte der Geschichte rutscht sie an die Rückenlehne, ein Bein schwebt in der Luft. Es hört auf, dass sie mit einer Hand die Tischkante umklammert, diese Umklammerung auflöst, um sich dann noch mehr zu verschränken. Sie liest: „Das Reisen fällt mir eigentlich schwer.“ Und erzählt, wie eine junge Frau ihre Eltern besucht. Sie sind in Venedig, denn die Eltern reisen, seitdem sie alt sind. Sie sind so alt, dass ein Selbstmord grotesk erscheinen würde, obschon der noch zu verweilenden Lebensdauer.
Das Weltbild der Eltern ist unverrückbar. Die junge Frau kann dagegen nicht einmal den Stadtplan richtig falten. In Gegenwart von Vater und Mutter ist sie das Kind. Aber die Dominanz des müden Vaters verwischt sich in belanglosen Ratschlägen. Die Mutter versucht, entstandene Ferne durch beständiges Reden zu kompensieren. Am Ende sitzt die junge Frau im Zug nach Deutschland. „Meine Eltern haben mich zum Bahnhof gebracht.“ Aber sie haben nicht gefragt, ob ihre Tochter bleiben möchte. „Hätten sie gefragt, ich wäre geblieben.“ Der Zug rollt an, während ihre Mutter nach der Hand des Vaters greift.
Ein Augenblick wie zweite Heirat. Irgendwann hält der Zug mitten auf der Strecke an. In den Bergen ist ein Drachenflieger abgestürzt und hängt vermutlich in irgendeiner Leitung, „mit gebrochenen Flügeln.“ Die Protagonistin trifft auf ein dickes Paar, das verliebt im Gras sitzt. Auch sie halten sich die Hände. Es wirkt nicht weniger bizarr, als die sich liebenden Eltern in Venedig. Judith Hermann sagt leise „danke“, nachdem sie gelesen hat. Ihr Gesicht: Wie eine Barlach-Figur, im Text verschlossen. Es können Fragen gestellt werden, Judith Hermann sagt, in jeder Geschichte „gibt es ein Geheimnis, das meins bleibt.“ Sie sagt auch, dass jeder Erzählung ein Satz vorausgeht, um den der Plot selbst gebaut werden will. Es wird gefragt, wie dieser Satz in „Aqua Alta“ heißt. Die Autorin antwortet: „Das ist das Geheimnis.“
(Judith Hermann: „Nicht als Gespenster“, Fischer, 320 Seiten, 8,95 Euro / Bild: Wikipedia)