Dass wir immer noch am Leben sind, verdanken wir seit 1983 möglicherweise einem einzigen Mann: dem sowjetischen Oberstleutnant Stanislaw Petrow. Der erhielt in der Nacht vom 26. September 1983 die Computerwarnung, aus den USA steuerten Atomraketen Richtung Ostblock. Er hätte mit sowjetischen Raketen antworten müssen, entschied sich aber, keine Atomwaffen abzuschießen – und verhinderte so den Dritten Weltkrieg. Lukas Maisel widmet dem Helden einen kleinen, unaufgeregten Roman.
Das Happy End steht am Anfang dieses Romans: „Wenn Sie diese Geschichte lesen, wissen Sie schon, wie sie ausgehen wird: Dass Sie leben, ist der Beweis dafür, dass sie gut ausgegangen ist.“ Mit diesen Sätzen verrät der Erzähler geschichtskundigen Leserinnen und Lesern nichts. Die tatsächliche Geschichte ist bekannt, seit Generaloberst Jurij Wotinzew am 10. Dezember 1992 der „Prawda“ – einer der ältesten noch existierenden russischen Tageszeitungen – ein Interview gegeben hat. Durch dieses veröffentlichte Gespräch erhielt die Weltöffentlichkeit kurz nach Ende der Sowjetunion Kenntnis von jener so lang geheim gehaltenen Nacht, in der unsere Zivilisation am Rand der Selbstauslöschung gestanden hatte.
Neun Jahre zuvor, am 26. September 1983, hatte die sowjetische Luftraumüberwachung Alarm ausgelöst. Gemeldet wurde, dass eine US-amerikanische Atomrakete auf dem Weg Richtung Moskau sei. Das Protokoll sah für diesen Ernstfall vor, sofort zurückzuschlagen – eine Übernahme des gegnerischen „Launch on warning“-Protokolls, also: sofortiger Einsatz bei Alarm, nicht erst bei Einschlag der Interkontinentalraketen. Auf diese Weise wollte man im Falle eines Atomangriffs wenigstens Rache üben. Beide Seiten würden ausgelöscht. „Der Computer schätzte die Warnung als höchst glaubwürdig ein. Die Rakete würde in ungefähr siebenundzwanzig Minuten Moskau erreichen – und Millionen von Menschen augenblicklich umbringen. Und das wäre erst der Anfang.“
Der Dritte Weltkrieg droht
Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow war in jener Nacht diensthabender Offizier im geheimen Serpuchow-15-Bunker, eine Autostunde von Moskau entfernt. Er saß rein zufällig dort, als Ersatz für einen erkrankten Kollegen. Der Militärangehörige wusste nach Meldung des feindlichen Beschusses, dass ihm nur wenige Minuten bleiben würden. Eigentlich würde nun von ihm erwartet, sich blitzschnell zu entscheiden, sich auf den Drill seiner jahrelangen Ausbildung zu besinnen. Aber hier saß ein ebenso besonnener wie begabter Mathematiker und Ingenieur der Radioelektronik, der binnen eines Jahrzehnts zum ersten Systemanalytiker des Sowjetreichs aufgestiegen war.
Petrow firmierte zudem als stellvertretender Leiter der „Abteilung für militärische Algorithmen und Computerprogramme“. Er kannte die Stärken und Schwächen des computergestützten Warnsystems mit Weltraumsatelliten und Bodenradar, das installiert worden war zur Überwachung von genau eintausend „Minutemen“-Interkontinentalraketen, die zu jener Zeit auf sechs amerikanischen Basen stationiert waren. Ein Atomangriff, das wusste Petrow, würde unweigerlich den Dritten Weltkrieg auslösen.
„Woran dachte Stanislaw Petrow in diesem Augenblick der Entscheidung? Er dachte nicht an seine Frau oder seine Kinder, er dachte an Kamtschatka: an die schneebedeckten Vulkane und die Birkenwälder Kamtschatkas. Daran, dass es die Vulkane und Birkenwälder nicht mehr geben wird, wenn dieser Krieg beginnt, der keinen Sieger haben kann. Einstein hatte gesagt, er sei nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgefochten würde, aber im Vierten würden die Menschen mit Stöcken und Steinen kämpfen.“
Krieg oder Frieden
Albert Einstein, der Moralist und Physiker, hatte die Grundlagen für die Atombombe geschaffen. Deshalb ist es sehr treffend, dass der Schweizer Schriftsteller Lukas Maisel nicht nur an Stanislaw Petrow, sondern auch an den berühmten deutschen Physiker erinnert. Politisch passt seine als „Roman“ überschrieben Novelle ins dritte Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die Titelüberschrift – „Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ – kann als Kommentar auch zum gegenwärtigen Konflikt gelesen werden. Dies allerdings nicht im unterkomplexen Sinne, dass sich eine angegriffene Partei gegenüber seinem Aggressor zu ergeben habe.
Maisels Prosa ist an keiner Stelle anschlussfähig an jene zynischen „Krieg oder Frieden“-Slogans, die derzeit an den Laternenmasten hängen und mit ihrem griffigen Wortspiel Leo Tolstois Erbe pervertieren. Maisels Prosa ist eher anschlussfähig an Bertold Brechts Ausspruch: „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“. Denn sein real existierender Protagonist stand 1983 vor der Wahl, den Krieg anzunehmen – und das Heldenhafte bestand in der Verweigerung dieses massenmörderischen Angebots.
„Die Malmstrom Air Base, von der die Rakete angeblich gestartet war, lag im Bundesstaat Montana. Warum war eine Rakete ausgerechnet von dort losgeschickt worden? Vielleicht hatte ein Offizier in Montana die Nerven verloren, irgendein Mann, der aus irgendeinem Grund wütend geworden war. Vielleicht war ihm beim Bleistiftspitzen die Bleistiftspitze abgebrochen, oder er hatte heißen Kaffee auf seine Hose verschüttet, vielleicht hatte ihn auch seine Frau verlassen.“
Mensch vs. Technik
Das Überleben der Menschheit steht auf dem Spiel. Vielleicht auch deshalb entscheidet sich Petrow gegen die De-Humanisierung seines Feindes. Er stellt sich sein militärisches Gegenüber stattdessen als fühlendes Wesen vor. Lukas Maisel erzählt seine Bunker-Novelle als Seelen-Kammerspiel. Im Mittelpunkt stehen jene 18 Minuten zwischen 00:15 Uhr und 00:32 Uhr, in denen ein Mensch den Algorithmen ausgesetzt ist und dennoch eine improvisierte, humane Entscheidung treffen muss. Es ist ein Showdown zwischen Technik und Mensch – kein Gedankenspiel, sondern blutiger Ernst. Petrow imaginiert, der Großrechner M-10, der den Alarm ausgelöst hat, sei – wie er selbst – ein Mängelwesen.
„Ein Computer konnte, anders als ein Kind, niemals schlauer sein als der Mensch, der ihn geschaffen hatte. Deshalb kontrollierten sie den Computer und nicht umgekehrt. Ein Computer errechnete Lösungen auf mathematischem Wege, jeder Mensch aber trug Unberechenbares im Herzen. Und das Unberechenbare in seinem Herzen sagte Stanislaw Petrow jetzt, dass irgendetwas nicht stimmte. Daran war nichts Übersinnliches. Es war eine Ahnung, die sich aus den Erfahrungen seines vierundvierzig Jahre langen Lebens speiste.“
Neue Turing-Tests
Diese von der Novelle angenommene Aussage Stanislaw Petrows weist in unsere hochtechnisierte Gegenwart. Sie schließt an die Idee des Turing-Tests an. Dieses vor 75 Jahren entwickelte Experiment zielt auf die humanen Fähigkeiten künstlicher Intelligenz. Im Versuchsaufbau stellt ein Mensch, allein in einem Raum sitzend, virtuelle Fragen sowohl an andere Menschen, als auch an künstliche Intelligenzen, an Computerprogramme. Wenn der Proband nicht mehr unterscheiden kann, ob ihm ein Mensch oder eine KI antwortet, gilt der Turing-Test als bestanden. Übernehmen Maschinen nun die Macht über die ihr unterlegende Menschheit? Der US-amerikanische Internetpionier Jaron Lanier, hat bereits in den frühen 2000er Jahren festgestellt, dass die Frage des Turing-Tests entgegengesetzt gestellt werden muss.
„Turings Fehler war, dass er von der Annahme ausging, ein Computer könne den Test nur dann erfolgreich bestehen, wenn er seine Leistung steigerte, klüger und menschlicher werde. Es gibt aber noch eine weitere, genauso stichhaltige Erklärung dafür, dass ein Computer den Test gewinnt, und zwar, dass der Mensch an Intelligenz verliert und weniger menschlich geworden ist. […] Aber meiner Ansicht nach lenkt dieses Ereignis uns nur von den wahren Turing-Tests ab, die bereits ständig gewonnen werden. Wir Menschen verlieren ständig reale, wenn auch kleine, unscheinbare Turing-Tests, und zwar immer dann, wenn wir uns dummer Computersoftware unterordnen.“
Eine Überlegung von Internetpionier Jaron Lanier aus dem Essayband „Wenn Träume erwachsen werden“. Anders, als man bei Übersicht des Klappentextes vermuten könnte, ist Maisels Novelle keine literarisierte Nacherzählung der Ereignisse vom 26. September 1983. Sie ist vielmehr eine poetische Einfühlung in die Verfasstheit eines pflichtbewussten Menschen, der über lange Zeit einem diktatorischen System gedient hat. Und der doch im entscheidenden Moment umschaltet: vom Befehlsempfänger zum fühlenden Wesen. Er ordnet sich eben nicht einer im moralisch neutralen Sinne dummen Computersoftware unter. So stellt Petrow seine Liebe zur Menschheit über alles, eine Liebe, die er vermutlich nur deshalb spüren kann, weil er auch als Familienvater und als Gatte seiner Ehefrau Raisa gegenüber, stets ein liebevoller Mensch geblieben ist.
„Wenn er eine Liste aller Dinge niederschriebe, die er an Raisa liebte, stünde ihr Lachen ganz oben. Er könnte diese Liste endlos fortsetzen. Zum Beispiel damit, dass sie beim Einkaufen aus Mitleid das verformte Gemüse auswählte. Uneingeweihte würden diesen oder andere Punkte als Fehler missverstehen. Doch diese sogenannten Fehler schmälerten seine Liebe nicht, im Gegenteil: Er liebte Raisa nicht, weil sie fehlerlos war, er liebte sie, weil sie Raisa war – und alles, was zu ihr gehörte. Deshalb hätte eine solche Liste, selbst eine endlose, seine Liebe für sie nicht einfangen können.“
Die Liebe eines Einzelnen hat die Kraft, uns alle zu retten – diese menschenfreundliche Erkenntnis beseelt Lukas Maisels Novelle. Den nachweisbaren Fakten wird eine übergültige, eine poetische Spekulation entgegengesetzt. Dieses Buch beweist einen literarischen Eigenwert, der über jedem Nachrichteninhalt steht, als poetische Einfühlung in die Seele eines Mannes, der zumindest im Westen als Held verehrt wird, diese Verehrung hingegen selbst stets abgelehnt hat. Seine Verhinderung eines Dritten Weltkriegs sei eben dies nie gewesen: Eine Heldentat. Er habe lediglich seine Pflicht erfüllt.
Lukas Maisel: „Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“, Rowohlt, Hamburg, 128 Seiten, 23 Euro.