Das Erröten und die Psyche, die Empfindsamkeit und der „Hauch von nichts“ haben Eingang gefunden in dem Künstlerbuch „Eine Enzyklopädie des Zarten“ von Anne Brannys – einem der schönsten Bücher des Herbstes. Die Autorin im Gespräch.
Gehen wir mal gemeinsam durch dieses Buch, das unter verschiedenen Lemmata ein Kompendium des Zartfühlenden ist – von der Abszenz als zärtlichste Form absoluter Reduktion bis zum Zweifel, den man eher nicht mit dem Zärtlichen in Verbindung bringen würde. Nach welchem Ordnungsprinzip – außer dem alphabetischen – ist Ihre „Enzyklopädie des Zarten“ angelegt? Das ist erstmal eine große Sammlung gewesen von verschiedenen Aspekten und dann habe ich geschaut, welche Dinge interessieren mich ganz besonders und ich habe daraus eine Auswahl getroffen, die ganz subjektiv motiviert ist. Es gibt natürlich größere Oberbegriffe wie zum Beispiel „Sensibilität“ oder „Intimität“ unter denen sehr viel subsummiert wurde, aber es gibt auch ganz, ganz kleine poetische Betrachtungen – oder Alltagsphänomene. Ich habe beispielsweise die Sahne im Schwarztee mit aufgenommen, die sich in der ostfriesischen Teezeremonie besonders zart vermischt, aufgrund der Molekularbewegung der kleinen Teilchen, sodass ich sagen kann: es ist meine subjektive Auswahl gewesen, die dazu geführt hat, dass diese Artikel in der Enzyklopädie jetzt so sind. Sie stellen eine Auswahl dar von einer größeren Sammlung.
War das in Zettelkästen – oder wie wurde das Ganze sortiert? Ja, ich habe zum Schluss mit einem sehr schönen Programm gearbeitet, dass an der Universität Bielefeld entwickelt wurde, aufgrund des Zettelkastens von Niklas Luhmann – und habe dort eine kleine Datenbank angelegt, wo ich Dinge gesammelt habe, zum Teil auch nur einzelne Worte oder Zitate oder Bilder und dieses wunderbare Programm schafft die Verlinkungen und Verschlagwortungen und so weiter. Natürlich habe ich auch viele, viele, viele Ordner angelegt, die ich noch heute in meinem Atelier stehen habe, mit allen möglichen Materialien, auch mit E-Mails von Hinweisen, von Kollegen und Freunden, und Scans aus der Bibliothek, Ausstellungsbooklets und so weiter, aber auch kleine Objekte. Ich habe zu der Arbeit wirklich lange gesammelt und diese Sammlung dann irgendwann gebündelt und eine Auswahl getroffen, was ich von dieser Sammlung präsentieren möchte.
Es ist ein freies Programm, wenn ich das richtig erinnere. Niklas Luhmann hat auf besondere Art und Weise mit seinen Zettelkästen kommuniziert und dieses Programm lässt sich herunterladen und auch im Internet finden. – Die meisten Seiten dieses Buchs sind nicht aufgeschnitten, was man hierzulande gar nicht mehr kennt. Es gibt also auch Texte und Bilder, die sich im Inneren der Seiten befinden, die man erspähen kann durch die oben und unten offenstehenden Laschen. Manche Texte und Bilder schimmern palimpsestartig durch, andere kann man kaum entziffern, man müsste dieses schöne Buch geradezu zerstören. Wie bringen Sie die KäuferInnen Ihres Buchs aus dem Dilemma zwischen Wissensbefriedigung und damit Zerstörung auf der einen Seite – man möchte wissen, was im Inneren der aufgeschnittenen Blätter zu sehen ist – und wiederum der Sehnsucht nach stiller Schau unverletzter Schönheit auf der anderen? Ich glaube, das überlasse ich jedem Einzelnen, denn man hat die Möglichkeit, eine kleine Vorschau zu haben, indem man von oben oder unten hineinschaut oder auch einzelne Seiten gegen das Licht hält, aber – ich sag mal – die volle Schönheit der Arbeiten von 65 Künstlerinnen und Künstlern kann man nur in voller Pracht erleben, wenn man die Seite aufschneidet.
Häufig verhandeln Sie das Dazwischen-Sein, verschiedene Formen von Dualismus, Dialektik oder Differenz – womit wir wieder bei Luhmann wären, aber eben nicht bleiben müssen. Sie schreiben über das Nebeneinander von Nähe und Distanz in Liebesbeziehungen, verhandeln das Leichte und Schwere in Ihrem Text über die Sorglosigkeit und dann gibt es noch das Letatlin, was Sie gerne sogleich erklären können… Wieso steht das Zarte in einem dialektischen Verhältnis zur Welt? Letatlin ist eine Arbeit von Wladimir Tatlin, die ich ganz stark finde. Es ist ein Flugapparat, der so aussieht, als könnte man sich in ihm festschnallen und loslegen, und tatsächlich kann man das gar nicht, es ist von Anfang an nicht möglich gewesen, damit tatsächlich zu fliegen. Er hat verschiedene Flugversuche gemacht – aber es funktioniert nicht. Ich mag die Arbeit gerade deshalb, weil sie sich in der Schwebe befindet zwischen „ich möchte etwas unbedingt“ und der Unmöglichkeit, und weil es letztlich – wie auch im vorangestellten Zitat – um das Gefühl geht, fliegen zu können und um den dringlichen Wunsch, der vielleicht sogar das Glücksgefühl des Fliegens übersteigt. (Anm.: die Worte von Wladimir Tatlin im abgedruckten Zitat: „Ich möchte den Menschen auch das Gefühl vom Fliegen wiedergeben. Es wurde uns geraubt durch das mechanische Fliegen mit dem Flugzeug. Dabei fühlen wir nicht die Bewegung unseres Körpers in der Luft.“) Das Zarte, ich glaube, es ist einfach ein insgesamt sehr schwer zu begreifender oder zu fassender Begriff, der sich im vagen, in der Schwebe, in der Balance aufhält und sich deshalb tatsächlich zwischen Antagonisten hin- und herbewegt, zwischen dem Feinen und dem Groben, zwischen dem Subtilen und dem Gewaltsamen und dabei eine ganz eigene Position einnimmt, die schwer zu klären ist – und weil sie schwer zu klären ist, habe ich tatsächlich die komplette Form und die Textform als schwebende, auch als offene angelegt, damit tatsächlich derjenige, der sich dem Begriff, den Dingen im Buch annähert, diese Schwebe in sich selber spüren kann und auch eigene Positionen beziehen kann, also diese Leerstellen, in denen tatsächlich dann auch Raum ist für den Anderen.
Das Dazwischen-Sen ist eine Denkfigur, die in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Karriere in den Geisteswissenschaften gemacht hat. Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen? Ich glaube, um dieses Dazwischen-Sein auszuhalten, braucht es einen gewissen Mut und vielleicht auch eine Hilflosigkeit, wenn die Kategorien quasi nicht greifen und die Dinge trotzdem noch sind. Dann muss man vielleicht akzeptieren, dass es eine Bestimmung, eine letztendlich und gültige Bestimmung an dieser Stelle nicht gibt und dass das vielleicht gar nicht schlimm ist.
In welcher Weise kann dann, daran anschließend, das Zarte oder Zärtliche auch eine brutale Seite haben? Ich glaube, die Konnotation des Zarten als Liebliches und zu Beschützendes tatsächlich auch eine Gefahr birgt. Ich habe das in verschiedenen Artikeln versucht, ein bisschen anzureißen, zum Beispiel den Aspekt des Manipulativen, also: wenn ich eine starke Berühmtheit im Weinen, in den Tränen einsetze, um meine Ziele zu erreichen, also die Zartheit vorschütze, um dahinter meine Ziele zu verfolgen und ganz feine Strategien anwende, die kaum mehr als Machtstrategien zu erkennen sind. Dann hat das Zarte schon auch eine gewaltsame Komponente, die auf den ersten Blick vielleicht nicht so ersichtlich ist, aber deswegen nicht weniger stark und tatsächlich auch gewaltsam sein kann. Ich habe beispielsweise in dem Artikel „Arsen“ über die Giftmorde, die traditionell eher früher von Frauen ausgeübt wurden, ein bisschen recherchiert und das ist vielleicht ein Beispiel: dieses kaum Sichtbare und körperlich nicht Gewaltsame, aber dennoch zum Tod führende, zur Zerstörung führende Verhalten, dass vielleicht eine zarte Form der Gewalt darstellt.
Ihr Buch ist undenkbar als elektronische Version, es will angefasst, es will auch zart behandelt werden, damit weder das Weiß seiner Oberfläche noch der mehrfach gefaltete Schutzumschlag in seiner Unberührtheit beschädigt wird. Ihre „Enzyklopädie des Zarten“ besitzt also eine ganz klar haptische Dimension – und Sie schreiben an vielen Stellen über Körpergefühle, über Körperempfindungen, über Skulpturen, die permanent körperwarm gehalten werden. Welchen Stellenwert hat dieses Körperliche für unser Wissen über das Zarte? In meinen Augen einen sehr großen Stellenwert, weil: ich bin bildende Künstlerin und beschäftige mich tatsächlich mit dem Haptischen in meiner Arbeit – und für die Enzyklopädie war es mir wichtig, dass am Ende ein Produkt entsteht, dass ich anfassen kann. Das Papier zum Beispiel ist ganz sorgfältig ausgesucht, das eine bestimmte Grammatik, eine bestimmte Schwere hat, aber trotzdem der seidig ist, das Durchscheinende hat.
Welchen Begriffen sind Sie nachgegangen, ohne sie später in Ihre „Enzyklopädie des Zärtlichen“ aufzunehmen? Mir fällt eine Sache ein, zu der ich nicht mehr gekommen bin, die ich gern noch drin gehabt hätte, die ich nicht mehr ausgeführt habe –und zwar wollte ich eigentlich etwas über den Schleier schreiben. Ich habe eine Skulpturen Neapel gesehen, in einer Kirche, in der diese typische Pudica-Darstellung, in der quasi eine schamhafte Madonnenfigur oder Heiligenfigur mit einem Schleier bedeckt war – und durch diesen Schleier sieht man im Grunde genommen alles durch – und über diese Begrenzung/Nicht-Begrenzung, das Halb-Durchsichtige und trotzdem Bedeckte, auch das erotische Spiel mit dem Schleier, das hätte mich noch interessiert, aber habe ich letztlich nicht mehr ausgeführt und dem immer bisschen nachgetrauert. Das würde mir jetzt einfallen als: Nicht in der Enzyklopädie aber noch auf dem Schreibtisch liegend…
Anne Brannys: „Eine Enzyklopädie des Zarten“, FVA, 294 Seiten, 38 Euro / Das Beitragsbild ist von Tanja Schnitzler, die beiden Bilder im Text von Konrad Angermüller