Am Mittwoch dieser Woche ist Andrea Camilleri 93-jährig in Rom gestorben. Vor vier Wochen war der Bestsellerautor in kritischem Zustand wegen Herz- und Atem-Problemen ins Krankenhaus eingeliefert und ins Reanimationszentrum gebracht worden. Zu seinen vielen unvergesslichen Büchern gehört der autobiographisch inspirierte Roman „Die Pension Eva“.
Bekannt wurde der gebürtige Sizilianer vor allem mit seinen Kriminalromanen über den kauzigen Kommissar Salvo Montalbano. Die Verfilmungen der italienischen Rundfunkanstalt RAI waren über die beeindruckende Dauer von zwanzig Jahren wahre Straßenfeger mit Einschaltquoten von 45 Prozent, übertroffen lediglich von den Übertragungen wichtiger Spiele der italienischen Fußball-Nationalmannschaft.
Camilleri kommentierte stets hellwach die politischen Verwerfungen seines Landes, und er war in vielfacher Hinsicht ein italienischer Herr alter Schule, dessen traditionell verwurzeltes Männerbild beispielhaft gezeigt wird in seinem autobiographisch gefärbten Roman „Die Pension Eva“. Es ist die warmherzig-wllüstige Geschichte eines Teenagers, der seien Sexualität entdeckt, keine 170 Seiten umfassend, und doch ein komplettes Archiv Siziliens zur Jugendzeit Camilleris. „Die Pension Eva“ ist das einheimische Bordell, in dem die Mädchen alle zwei Wochen wechseln. Allein ihre Anwesenheit inspiriert die Jungen, für die Sexualität schlechterdings etwas Magisches ist.
2008 sprach Maike Albath für den Deutschlandfunk mit Andrea Camilleri und fragte ihn, was man in seiner Jugend wusste vom weiblichen Geschlecht. Seine Antwort, beendete er damals mit einem Lachen – vielleicht auch deshalb, weil sich das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen in Italien seitdem emanzipiert hat. „Es war ein Terrain, das man erforschen durfte. Heute ist dieser Bereich von vornherein vollständig bekannt“, erinnert sich der Schriftsteller, „echte Entdeckungen sind kaum mehr möglich. Ganz abgesehen von dem sexuellen Aspekt wollten wir einfach verstehen, wie Frauen sind, wie sie denken, wie sie sprechen. Wir hatten ja überhaupt keine Möglichkeit, jenseits von offiziellen Begegnungen Frauen kennenzulernen.
Deshalb übten diese Bordelle natürlich eine unglaubliche Anziehungskraft auf uns aus. Die einzige Chance, überhaupt irgendetwas über Frauen in Erfahrung zu bringen, boten uns unsere Cousinen. Man durfte mit einem Mädchen nicht einmal Spazierengehen. Das war undenkbar. Falls man es überhaupt irgendwie schaffte, sich zu verabreden, war das ein ungeheures Risiko. Wir haben eine stumme Sprache erfunden, die Sprache, die aus Gesten und Blicken bestand. Das war unglaublich. Man konnte diese Sprache nur anwenden, wenn das Mädchen auf den Balkon trat. Ihr Verehrer stand irgendwo auf der Straße herum, und dann ging es los. Der sizilianische Schriftsteller Giovanni Verga hat einmal gesagt, dass wir Sizilianer allesamt ‚Balkonschwangere‘ seien; was eine schöne Bezeichnung ist. Dieser erfundene Begriff deutet die ganzen Phantasien an, die für uns mit den Frauen verbunden sind, und er nimmt vorweg, was (Vitaliano) Brancati und andere Schriftsteller daraus machen werden.“
Annette Kopetzki hat zahlreiche Bücher des Sizilianers ins Deutsche übersetzt. Im heutigen „Büchermarkt“-Gespräch hat sie eine Annäherung gewagt an den Welterfolg des Schriftstellers, als sie sagte: „Camilleri hat in einer einzigartigen Mischung aus der sizilianischen Sprache, das ist eigentlich kein Dialekt, und Hochitalienisch geschrieben. Dieser Gegensatz, dieser Kontrast prägt seine Bücher und erzeugt sehr oft komische Wirkung, beispielsweise, wenn ein norditalienischer Polizist nach Sizilien versetzt wird, und dort mit seinem Hochitalienisch auf den Dialekt stößt. Ich glaube, weil Sie vom Welterfolg sprechen: der liegt bei den Montalbano-Krimis, die sich hundertmillionenfach verkauft haben und in 46 Sprachen übersetzt wurden, natürlich erstens an Sizilien, diesem wunderbaren Land, und zweitens an der Figur des Montalbano – ein etwas verschrobener, versonnener, sehr dem guten Essen den Frauen zugetaner Polizist, mit dem sich die Leser unmittelbar identifizieren konnten, vor allem die Italiener. Er ist ein durchschnittlicher Mensch, verlässt sich mehr auf seine Intuition als auf polizeiliche Techniken, und eckt auch oft an, also: Diese Figur hat etwas so Rundes und auch Liebenswertes, dass sicherlich der Erfolg der Montalbano-Krimis damit zusammenhängt.“
Andrea Camilleri war sehr produktiv. Gezählt sind 1.300 Radioproduktionen, 120 Theaterinszenierungen, 80 Fernsehspiele und mehr als 100 Bücher. Durch seinen Erfolg als Kriminalschriftsteller mag er in den Verdacht der leichten Muse geraten zu sein – tatsächlich wird vielfach sein breites literaturhistorisches Wissen und seine originell-intertextuelle Kraft hervorgehoben. Zudem ist er weitläufig verwandt mit dem Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello. Annette Kopetzki bemerkte an, dass die Theaterarbeiten hierzulande traurigerweise nicht bekannt sind:
„Aber seit Camilleri in den letzten Jahren angefangen hat, insgeheim autobiographische Elemente in seine Bücher zu bringen, zum Beispiel in dem Band ‚Über Frauen’, wo er nicht nur literarische Frauenfiguren, sondern auch die Frauen seines Lebens beschreibt, mit wunderbaren Anekdoten, und auch in dem Buch ‚Gewisse Momente’, wo er besondere Begegnungen in seinem Leben beschreibt. Seither weiß man von dieser ungeheuren Produktivität im Bereich der Theater-, Radio- und Fernsehregie. Er hat auch Regie studiert und war selber Professor an der nationalen Theaterakademie, und Dozent an einem experimentellen Filmstudiengang. Da hat er auch das Jahr 1968 erlebt. Damals hat er so viel gearbeitet, gleichzeitig Artikel für Zeitungen geschrieben, in denen er politisch Stellung nahm, dass er nicht zu Schreiben kam, obwohl er eigentlich gerne weitergeschrieben hätte. Er hatte nämlich schon sehr früh Gedichte publiziert, die in wichtigen Gedichtanthologien erschienen sind, und irgendwann, da hatte er schon fast das Pensionsalter erreicht, wurde der Wunsch so mächtig, wieder zu schreiben, dass er damit anfing. Allerdings hatte sein erster Roman überhaupt keinen Erfolg. Er hat sage und schreibe zehn Jahre lang, wie er in seinem letzten Buch schreibt, das ich gerade übersetzt habe, das Manuskript an alle Verlage verschickt, und immer wieder abschlägige Antworten erhalten; und zwar aufgrund der Sprache.
Das war nämlich etwas vollkommen Neues, diese Mischung aus Dialekt und hochsprachlichem Italienisch. Das hat eine sehr nette Entstehungsgeschichte. „Brief an Matilda“, ist ein Brief an seine Urenkelin, und im Grunde seine Lebensbeschreibung. Als sein Vater im Sterben lag, da hat er die Nächte mit ihm verbrachte, und dem Vater gegenüber den Wunsch bekannt, einen Roman zu schreiben. Da sagte der Vater: ‚Erzähl ihn mir’. Da hat Camilleri in diesen Nächten den Roman erzählt, und dann hat der Vater gesagt: ‚So, bevor ich sterbe, musst Du mir versprechen, dass Du diesen Roman genau so aufschreiben wirst, wie Du ihn mir erzählt hast.“ Es war der Beginn einer sagenhaften Schriftstellerkarriere.
Das Werk von Andrea Camilleri erscheint in Deutschland bei Rowohlt Hamburg, zuletzt „Gewisse Momente“, aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki, 176 Seiten, 22 Euro. Sein „Brief an Matilda“ ist angekündigt für den 28. Januar 2020 (hier).