Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt bekannte 1975: „Das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist, daß ich an einer Buchhandlung vorübergehe und dort im Fenster ein Büchlein sehe mit dem Titel: ‘Trost bei Dürrenmatt’. Dann muß ich sagen: Jetzt bin ich fertig. Literatur darf keinen Trost geben. Literatur, glaube ich, darf nur beunruhigen. Wenn ich Trost gebe, lüge ich; dann beruhige ich mich, und das ist falsch.“
Vierzig Jahre später gewann der Hamburger Jan Wagner den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen durchaus auch tröstenden Lyrikband „Regentonnenvariationen„. Es war das erste Mal, dass die Leipziger Jury Gedichte auszeichnete. Und die F.A.Z. analysierte vorab, dass hier „das Machtgefüge zwischen Roman und Gedicht“ auf den Kopf gestellt würde. Doch Spiegel-Kritiker Georg Diez ätzte nur einen Tag nach der Verleihung mit dem ihm eigenen Furor: „Hier feiert jemand das ganz, ganz Kleine, das Superprivatistische, die Landlust und Versenkung, Verklärung, Verkitschung der Natur auf eine so humorlose und formal öde Art und Weise, dass Langeweile schon gar kein Wort mehr ist, das sich auf diese Gedichte anwenden lässt.“ Seitdem steht die Behauptung im Raum, die deutsche Literatur werde allein dann beachtet, wenn sie sich der Gegenwart verschließt – und dann auch noch auf formaler Ebene so scheitert, dass dieses Scheitern gleich mit thematisiert wird.
Nun sind sich bei Jan Wagner Kritiker und Leser nahezu einig, dass er auf brillante, anspielungsreiche Weise über Ängste, Probleme und Schreckensvisionen unserer unsicheren, teilweise menschenverachtenden Gegenwart schreibt. Richtig ist, dass „Regentonnenvariationen“ schwer als politisches Manifest bezeichnet werden kann. Der Band bedient sich uneigentlicher Sprache, ist nicht klar. Er ist hintersinnig. Er ist keine krawallige Talkshow-Antwort. Er ist Poesie. Fragen der allgemeinen Gegenwart beantwortet Wikipedia. Den Problemen des Einzelnen stellt sich dagegen die Literatur, mal auf stille, dann wieder auf laut-zupackende Weise. Selbstverständlich ist die deutsche Literatur vielfältig, also an der einen Stelle „superprivatistisch“, an der anderen dagegen mitten drin im Weltgeschehen. Beides wird immer wieder mit Preisen bedacht.
In den vergangenen Monaten wurden unter anderem ausgezeichnet: Katja Petrowskaja mit dem Aspekte-Preis für „Vielleicht Esther„, einen Roman, der zugleich über das nationalsozialistische Massaker von Babyn Jar und Großmutters süße Rosinenwürste erzählt. Den Clemens-Brentano-Preis erhielt Saskia Hennig von Lange für die melancholische Boxerstory „Zurück zum Feuer“ und der Bremer Literaturpreis ging 2014 an Clemens Meyer für sein mächtiges Rotlicht-Epos „Im Stein“ – das denkbar größte Gegenstück zu Wagners „Regentonnenvariationen“. Einmal im Jahr kommen diese Forderungen auf nach einer neuen, relevanteren, urbanen, weiblicheren oder weniger akademischen deutschen Literatur. Doch diese Literatur ist da, auch wenn 95 Prozent belangloser Quatsch sein mag – 95 Prozent von allem ist belangloser Quatsch; 95 Prozent aller Fernsehfilme, 95 Prozent der Gegenwartskunst, 95 Prozent der norddeutschen Regionalküche (gut, beim Letzterem sind es vielleicht 98 Prozent, was die Franken dann aber wieder perfekt ausgleichen). Doch ausgerechnet Jan Wagner für diese 95 Prozent haftbar zu machen ist Unsinn. Was Dürrenmatt angeht: sogar Trost darf Literatur geben. Solange sie nicht von Paulo Coelho geschrieben wurde.
[…] das übermorgen beginnt. Das Gedicht, durch die Verleihung des Leipziger Buchpreises an Jan Wagner (hier im Blog und dort verteidigt vom Poetenladen) müsste jetzt ein gewaltiger Ansturm stattfinden auf die […]