Nach Thomas Manns “Der Tod in Venedig” kommt 114 Jahre später Adriano Sacks schwule Trauergeschichte über einen Tod im sizilianischen Noto. Der „Stil und Reise“-Redakteur der „Welt am Sonntag“ erzählt in seinem späten Debütroman über einen alternden Bonvivant, der sich auf die Suche macht nach Möglichkeiten der Schönheit im schmerzhaften Abschiedsprozess.
In zahlreichen Romanen agieren Hauptfiguren, die wie ihre Schöpfer heißen, vom fiktiven Privatdetektiv Paul Auster im „Stadt aus Glas“-Krimi über Herrn Kästner im Jugendbuch „Emil und die Detektive“ bis zum dandyhaften Senator Thomas in den „Buddenbrooks“. Manchmal kommen derartige Figuren zu Tode, wie der schwule Schriftsteller und Journalist mit dem auffälligen Vornamen Adriano in „Noto“, dem Debütroman des Autors und Journalisten Adriano Sack. Der erfundene Adriano stirbt einen nachgerade literarischen Tod, denn er schläft wie die große Ingeborg Bachmann mit noch brennender Zigarette ein.
„Das Kohlenmonoxid aus dem schwelenden Sofa hatte Adriano getötet. Schon wenige Atemzüge des giftigen Qualms müssen gereicht haben. Über dem Sofa hing ein gerahmter Scherenschnitt von einem jungen Mann am Computer, von dem Besucher oft dachten, dass es sich um Adriano handelte. Darunter aber lag nun der wirkliche Adriano. Oder die Hülle, die übrigbleibt, wenn ein Mensch gestorben ist. Die Augen geschlossen, auf den Lippen dieses trügerische und jetzt endgültige Lächeln. Er trug eine Baseballkappe mit der Aufschrift ‚Don’t think it’s over’, und seine Haut war fahl.“
Überästhetisierte Trauer
Keineswegs alles ist mit Adrianos Tod vorbei. Adriano Sacks Trauergeschichte beginnt, passend zum gern genommenen Charon-Motiv, mit einer Fährüberfahrt im Thyrrenischen Meer. Der Erzähler Konrad, Referent einer Studienstiftung in Rom, zurückgelassener Witwer des so schmerzlich vermissten Adriano, hat eine kleine Kabine gemietet und reist Richtung Sizilien.
„Auf dem Beistelltisch liegen mein Oura-Ring, obwohl ich den eigentlich vor allem im Schlaf tragen sollte, eine Halbliterflasche stilles Wasser, eine zerfledderte Ausgabe von ‚Der Herr der Ringe. Die Gefährten’, die Hirschtalg-Creme gegen trockene Hände von meiner Mutter und der Mussolini-Roman von Antonio Scurati auf Italienisch. Daneben steht eine dunkelgrüne Dose der italienischen Rasiercreme Proraso. Adriano mochte ihren Geruch nicht, aber er kaufte sie trotzdem wegen der altmodischen Verpackung. Sie erinnerte ihn an den Frisörsalon in der Bergstadt Chiaramonte Gulfi mit den lackierten Wänden. Jetzt ist seine Asche in dieser Plastikdose.“
Der trauernde Held tröstet sich in Sizilien mit der Schönheit Süditaliens, er sucht Rettung in Popmusik und Kinofilmen, während er durch die titelgebende italienische Stadt „Noto“ streift. Dort hat er einst gemeinsam mit dem Verstorbenen ein Ferienhaus nahe den Marmorklippen erstanden.
Unwiderruflicher Verlust
Adriano, Journalist, Künstler, Autor des fiktiven Rave-Romans „Slippery when wet“, wird als hinreißende Figur vorgestellt. Eine Zeitung charakterisierte ihn mit den Worten: „Er schreibt wie ein Partypromoter und raucht wie eine Frau“ – eine klare Anlehnung an einen realen SZ-Artikel über Christian Kracht, der offensichtlicher „spiritus rector“ dieses Romans ist, auch ein Zitat für die Buchrückseite geschrieben hat. Das gemeinsame, sizilianische Haus soll verkauft werden; zu groß ist die wilde Schwermut, die Konrad bei der Erinnerung an zurückliegende Zeiten des Glücks ergreift.
„Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die Bilder lockender hervor; wir denken an sie wie an den Körper einer toten Geliebten zurück, der tief in der Erde ruht und der uns nun gleich einer Wüstenspiegelung in einer höheren und geistigeren Pracht erschauern läßt.“
So steht es freilich nicht im „Marmorklippen“-Kapitel dieses „Noto“-Romans, sondern in Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“, einer von zahlreichen Folien dieser Geschichte. Sie hat freilich wenig gemeinsam mit der Faschismus-Parabel von 1939, obschon auch hier eine Gesellschaft bedroht ist. Die sizilianischen Einheimischen leiden unter begüterten Expads, die ihr Land kaufen. Vornehmlich ist diese Ich-Geschichte jedoch eben nicht politisch, sondern auf das westlich geprägte Individuum kapriziert.
Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm
Konrad, der häufiger an den Körper seines toten Geliebten Adriano denken muss, besucht in helleren Momenten Abendgesellschaften, die wirken, als könnten jederzeit Oscar Wilde oder Truman Capote den Raum betreten. Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm und ein täuschend echtes Mick-Jagger-Double haben einen Gastauftritt. Konrad hingegen wirkt an vielen Stellen wie George Falconer, jener ebenfalls um seinen Partner trauernde, homosexuelle Literaturprofessor aus Christopher Isherwoods nihilistischer Erzählung „A Single Man“, die ikonisch geworden ist durch die GQ-polierte Verfilmung Tom Fords mit Colin Firth in der Hauptrolle. Wie besagter Professor Falconer sucht gleichsam der Held von Adriano Sacks Geschichte Halt in äußerer Form, sein chaotisch durcheinandergeratenes Innenleben kaschierend – während Introjekte, täuschend reale Erinnerungen an den Geliebten, wie aus dem Nichts vor seinem inneren Auge auftauchen.
„Ich weiß nicht zu welchem Lied, aber wir bewegen uns durch den Raum, und so glücklich war ich lange nicht mehr in Adrianos Armen: Ich sehe, wie er sich nach dem Orgasmus schüttelt wie ein Hund. Wie er nach dem Schwimmen aus dem Meer kommt und gleich wieder reinrennt. Wie ich mich im Auto an seine Schulter lehne und seine Knochen in Bewegung spüre, wenn er den Gang wechselt. (…) Wie er schreibt und dabei lächelt, nicht selbstzufrieden oder eitel, sondern beseelt von der Unendlichkeit des Erzählbaren – und wie ich ihm wünsche, dass er für immer genau an diesem Ort bleiben könnte.“
Wie gern würde Konrad dem Rainald Goetz’schen Diktum „Don’t cry. Work!“ folgen, stattdessen leichten Herzens durch die Landschaft flanieren oder mit Freude im zurückgelassenen Tagebuch Adrianos blättern. Eine manchmal himmelhoch jauchzende, dann wieder zu Tode betrübte Stimmung wogt durch diesen überästhetisierten Roman. Adriano Sacks „Noto“-Debüt ist ein modernes Totenoffizium, ein Trauer-Tagebuch, deutlich zeigend, dass ein Abwesender präsenter sein kann als jene, die er hinterlassen hat.
Adriano Sack: „Noto“, Nagel & Kimche, Zürich, 334 Seiten, 24 Euro