Corona ist eine narzisstische Kränkung unserer Gesellschaft. „Das ist ja für mein Selbstwertgefühl gar nicht möglich, mit diesen Einschränkungen zu leben“, sagt die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki im Dlf anlässlich der überarbeiteten Neuauflage ihres größten Bestsellers.
Jan Drees Frau Wardetzki, „Weiblicher Narzissmus“, Untertitel: „Der Hunger nach Anerkennung“ heißt ihr Buch, das in den vergangenen dreißig Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht hat. Und bevor wir im späteren Verlauf dieser Sendung auch sprechen werden über die Märchen der Brüder Grimm und deren Bedeutung für den psychotherapeutischen Komplex, erlauben Sie uns bitte einen kurzen Schwenk in die Corona-Gegenwart, die, wie gesagt, unser Gespräch immer wieder verhindert hat, eine Gegenwart, die gekennzeichnet ist auch durch die narzisstische Kränkung einer kompletten Gesellschaft. Worin liegt eben diese narzisstische Kränkung, die wir erfahren aufgrund der uns überwältigenden Pandemie?
Bärbel Wardetzki: Also, diese narzisstische Kränkung liegt darin, dass die Menschen eingeschränkt werden in ihren Möglichkeiten, sich zu entfalten, in ihren Freiheitsgraden, und wir leben ja in einer Gesellschaft, wo wir im Grunde grenzenlos alles zur Verfügung haben. Und wenn diese Grenzenlosigkeit eingeschränkt wird dann ist das eine Kränkung nach dem Motto: „Das ist ja für mein Selbstwertgefühl gar nicht möglich, mit diesen Einschränkungen zu leben.“ Und dann kommt so eine Empörung, nach dem Motto: „Das kann doch gar nicht sein, das darf mir doch nicht passieren.“ Und ich habe manchmal das Gefühl, dass dahinter auch eine große Verwöhnung steckt, Also, wir sind wirklich sehr, sehr satt und wenn verwöhnte Menschen begrenzt werden, dann kann es sein, dass sie sehr aggressiv werden.“
Drees: Sie schreiben in der Einleitung Ihrer Neuauflage, Ihr Text sei die erste systematische Beschreibung narzisstische Themen aus weiblicher Sicht. Was ist das Spezifische dieses weiblichen Narzissmus in Abgrenzung zum männlichen einerseits, und warum, das gleich hinzu gesagt, bedeutet der terminus technicus „Weiblicher Narzissmus“ nicht, dass er allein an Frauen beobachtet werden kann?
Wardetzki: Ich habe das ja vor 30 Jahren geschrieben, dieses Buch und vor 30 Jahren war überhaupt nicht in unserem Fokus, dass auch Frauen eine narzisstische Thematik haben können. Wenn es um Narzissmus ging, haben wir immer nur an Männer gedacht und zwar an diese aufgeblasenen, sich in den Vordergrund schiebenden Männer. Dann habe ich mit essgestörten Frauen gearbeitet und habe im Lauf der Zeit festgestellt, dass die auch eine narzisstische Struktur haben und das bedeutet, dass sie zwar auf der einen Seite sich nach außen so geben, als wenn alles in Ordnung wäre, sie leugnen auch ihre Erkrankung, sie leugnen ihre Probleme. Sie stellen sich dar, als wenn sie selbstbewusste Frauen wären, aber wenn man sie näher kennenlernt, dann merkt man, dass dahinter eine unglaublich tiefe Selbstunsicherheit steckt, verbunden mit starken Selbstzweifeln und mit sehr viel Selbstentwertung.
Dass diese Frauen immer in dieser Polarität zwischen diesem inneren Gefühl von Wertlosigkeit und der äußeren Fassade, der taffen Frau hin und herpendeln – und in diesem Spannungsbereich hat oftmals die Essstörung auch ihren Platz, weil sie natürlich entstressend ist. Also, wenn ich mich mit Essen zumache, dann muss ich bestimmte Gefühle nicht mehr spüren, zum Beispiel meine Minderwertigkeitsgefühle und habe dann aber dann sozusagen ein Problem mehr. Aber gerade die Bulimie passt in dieses Schema des weiblichen Narzissmus perfekt hinein, weil das sind Frauen, die bedienen im Grunde ihre grandiose Seite, die ja immer mit Idealen verbunden ist. Also, die Frau, die ideale Partnerin ist, die ideale Mutter ist, die ideal aussieht, die eine ideale Figur hat, die schlank ist, die perfekt ist und die enorm viel leistet. Das ist so das Ideal dieser Frauen. Fehlerlosigkeit muss man auch noch erwähnen. Und diese Fassade, die soll eigentlich dieses Gefühl von Wertlosigkeit kompensieren. Der Unterschied zu dem männlichen Narzissmus ist, dass Menschen, die von sich aus sowieso immer sagen, „ich bin die Tollste“, oder „der Tollste, ich mache alles richtig und eigentlich sind alle anderen schlechter als ich und dieses Gefühl von Wertlosigkeit, das ist so weit weggedrängt, dass es gar nicht mehr gespürt wird.
Es ist zwar so wie: „da könnte auch so eine Seite sein, das ist noch da“, aber sie wollen es nicht spüren, sodass sie sich im Grunde nur mit ihrer Grandiosität identifizieren. Der weibliche Narzissmus ist mehr in dem Gefühl der Wertlosigkeit verankert und der andere im Gefühl der Grandiosität. Von der Grundthematik ist es genau dasselbe. Es ist nämlich ein verletztes Selbstwertgefühl, eine fehlende Identität und ein Bindungsproblem, aber das wird eben auf verschiedene Arten und Weisen kompensiert. Weiblich und männlich heißt nicht, Männer und Frauen, sondern das heißt, es sind mehr Männer, die mehr dieses Grandiosität besetzen und es sind mehr Frauen, die mehr diese Wertlosigkeit im Vordergrund haben. Es gibt aber auch Männer, die das haben und es gibt auch Frauen, die in der Grandiosität verwurzelt sind.
Drees: Sie schreiben ebenfalls in Ihrer Einleitung, eben diese weibliche Sichtweise sei zeitlos aktuell, und doch merken Sie ebenso an, dass zahlreiche gesellschaftliche Veränderung eingeflossen sind in diese nun vorliegende Neuauflage, vor allem in Bezug auf die Rollendefinitionen von Männern und Frauen, ebenso auf die Rolle von Vater und Mutter im Erziehungsprozess. Hinzu kommt selbstverständlich das 1991 in dieser Weise nicht absehbare Phänomen der sozialen Medien. Was gestaltet sich also neu, was muss leicht verändert beschrieben und möglicherweise auch anders therapiert werden?
Wardetzki: Also, ein ganz wesentlicher Unterschied ist, dass wir Narzissmus vor 30 Jahren immer als Störung bezeichnet haben oder als eine Art Krankheit, und dieses Bild hat sich natürlich über die Zeit revidiert dahingehend, dass wir sagen, jeder Mensch hat narzisstische Anteile. Die Störung bezieht sich eigentlich nur auf die sogenannte Narzisstische Persönlichkeitsstörung. Die ist wirklich am letzten Ende eines Kontinuums von ganz verschiedenen Mengen an narzisstischer Anhaftung und das hat wirklich dann Krankheitswert. Das ist auch diagnostizierbar und das ist dann wirklich eine Persönlichkeitsstörung, die weit über narzisstische Anhaftungen hinausgeht. Das betrifft aber nur einen kleinen Prozentsatz. Man spricht von ungefähr drei Prozent oder fünf Prozent der narzisstisch betroffenen Menschen.
Alles andere sind mehr oder weniger starke narzisstische Anhaftungen, die dann auch noch nicht in dem Sinne Krankheitswert haben, sondern die sogar eine ganze tolle Möglichkeit sind, um mit Selbstwertverletzungen umzugehen. Also, bevor ich depressiv in der Ecke sitze, mache ich mich im Narzissmus ein bisschen größer, werde kräftiger und kann zupacken, ganz banal gesagt. Narzissmus ist eine Möglichkeit, das Selbstwertgefühl zu schützen und es zu stärken. Von daher ist es erst einmal positiv. Es hat aber natürlich auch eine negative Seite, in dem eben die Menschen sich von sich selbst entfremden, von ihren Gefühlen, von ihren Bedürfnissen und sich dann mehr mit der Fassade identifizieren und so ein Stückchen entmenschlicht werden, weil das, was sie an Wünschen und Bedürfnissen haben, sie nicht mehr leben können. – Das andere sind die sozialen Medien.
Diese digitale Spiegelung hat natürlich eine enorme Bedeutung in unserer Gesellschaft, indem wir permanent uns abgleichen an den Anderen – „bin ich besser, als die Anderen, oder sind die Anderen besser als ich“ – wenn das sozusagen selbstwertorientiert verarbeitet wird, dann wird es zu einem narzisstischen Thema. Das bedeutet, nur wenn ich die positive Reaktion der Anderen bekomme, fühle ich mich wertvoll. Bleibt die aus oder wird die vielleicht sogar umgedreht in eine Entwertung, dann sinkt das eigene Selbstwertgefühl. Das hat auch zur Folge, dass ich mich im Netz gar nicht mehr als die präsentiere, die ich bin, sondern mir sozusagen eine digitale Identität zulege und den Anderen von mir etwas zeige, was ich selber toll finde und von dem ich glaube, dass die Anderen das auch gut finden und ich mich dann sozusagen noch mehr von mir entfremde, weil ich nochmal eine andere Identität aufbaue. Also, es ist nicht unproblematisch, auch wenn es natürlich ein menschliches Bedürfnis nach Spiegelung erfüllt. Das brauchen wir alle. Aber es kann eben auch ausgebeutet werden in narzisstischer Hinsicht.
Drees: Als Literatursendung interessiert uns freilich der literarische Diskurs. Auffällig ist, dass im psychotherapeutischen Kontext seit jeher mit dem Wissen von Mythen und Märchen gearbeitet wird. Den Narzissmus kennen wir beispielsweise aus den „Metamorphosen“ des Ovid, der von Sigmund Freud beobachtete „Ödipus-Komplex“ ist angelehnt an jenen antiken König, der vorgestellt wurde im „König Ödipus“-Drama des Sophokles. In Ihrem Buch „Weiblicher Narzissmus“ treffen wir unter anderem auf das märchenhafte Schneewittchen. Auf welche Weise interessiert sich die Psychotherapie für Märchen und Mythen, auf welche Weise interessieren Sie sich als Psychotherapeutin für diese Literatur, Frau Wardetzki?
Wardetzki: Diese Märchen, die haben natürlich einen ganz tollen Effekt, weil sie schöne Bilder zeigen und wir wissen, unser Gehirn denkt auch in Bildern und manchmal fällt es uns leichter, einen Inhalt über ein Bild zu verstehen, als über die Worte. Und im Märchen „Schneewittchen“ ist die Entwicklung einer weiblichen narzisstischen Thematik genauso beschrieben wie der Weg raus, Und das finde ich deshalb so spannend, weil ganz viele Themen, die wir in der Therapie finden, schon in diesen Märchenbildern gebunden sind. Märchen, die zeigen immer den individuellen Entwicklungsweg eines Menschen, durch die ganzen Krisen und durch die ganzen Schwierigkeiten bis zu einer Auflösung – und von daher habe ich dieses Märchen einfach als Grundlage genommen, um das ganze Thema so bildlich verständlich zu machen, dass es für Viele dann die Seele berührt.
Drees: Den Abschluss Ihres Buchs macht wiederum ein ganz anderes Märchen, nämlich das vom Marienkinde. Wir hören kurz den Anfang jener Fassung der Brüder Grimm, die überliefert ist der Großen Berliner Ausgabe der schönsten Kinder-und Hausmärchen, erschienen 1825-1843:
„Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau, der hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen von drei Jahren. Sie waren aber so arm, dass sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wussten, was sie ihm sollten zu essen geben. Eines Morgens ging der Holzhacker voller Sorge hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand auf einmal eine schöne große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm: ‚Ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins: du bist arm und dürftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter sein und für es sorgen.’ Der Holzhacker gehorchte, holte sein Kind und übergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold, und die Englein spielten mit ihm.
Als es nun vierzehn Jahre alt geworden war, rief es einmal die Jungfrau Maria zu sich und sprach: ‚Liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm die Schlüssel zu den dreizehn Türen des Himmelreichs in Verwahrung: zwölf davon darfst du aufschließen und die Herrlichkeiten darin betrachten, aber die dreizehnte, wozu dieser kleine Schlüssel gehört, die ist dir verboten. Hüte dich, dass du sie nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich.’ Das Mädchen versprach, gehorsam zu sein, und als nun die Jungfrau Maria weg war, fing es an und besah die Wohnungen des Himmelreichs: jeden Tag schloss sie eine auf, bis die zwölfe herum waren. In jeder aber saß ein Apostel und war von großem Glanz umgeben, und es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit, und die Englein, die es immer begleiteten, freuten sich mit ihm. Nun war die verbotene Tür allein noch übrig, da empfand es eine große Lust zu wissen, was dahinter verborgen wäre, und sprach zu den Englein: ‚Ganz aufmachen will ich sie nicht und will auch nicht hineingehen, aber ich will sie aufschließen, damit wir ein wenig durch den Ritz sehen.’ ‚Ach nein’, sagten die Englein, ‚das wäre Sünde: die Jungfrau Maria hat‘s verboten, und es könnte leicht dein Unglück werden.’
Da schwieg es still, aber die Begierde in seinem Herzen schwieg nicht still, sondern nagte und pickte ordentlich daran und ließ ihm keine Ruhe. Und als die Englein einmal alle hinausgegangen waren, dachte es: Nun bin ich ganz allein und könnte hineingucken, es weiß es ja niemand, wenn ich‘s tue. Es suchte den Schlüssel heraus, und als es ihn in der Hand hielt, steckte es ihn auch ins Schloss, und als es ihn hineingesteckt hatte, drehte es auch um. Da sprang die Tür auf, und es sah da die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz sitzen. Es blieb ein Weilchen stehen und betrachtete alles mit Erstaunen, dann rührte es ein wenig mit dem Finger an dem Glanz, da ward der Finger ganz golden. Alsbald empfand es eine gewaltige Angst, schlug die Tür heftig zu und lief fort. Die Angst wollte auch nicht wieder weichen, es mochte anfangen, was es wollte, und das Herz klopfte in einem fort und wollte nicht ruhig werden: auch das Gold blieb an dem Finger und ging nicht ab, es mochte waschen und reiben, so viel es wollte.“
Drees: Das ist der Anfang des Märchens vom Marienkinde in der Fassung der Brüder Grimm, ein Auszug, den wir gespielt haben aus dem sehr empfehlenswerten Hörbuch des gerade in überarbeiteter Neuauflage erschienen Klassikers „Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung“ von Bärbel Wardetzi. – In welchem Zusammenhang steht das gerade Gehörte mit Ihrem Thema – und wie geht es weiter, warum ist „Das „Märchen vom Marienkinde“ interessant für jene, die mehr verstehen wollen über das Phänomen des weiblichen Narzissmus, Frau Wardetzki?
Wardetzki: Das Märchen Marienkind ist letztendlich der Konflikt zwischen der Bedürfnislage, also wiederum dem Schneewittchen, und dem überhöhten, strengen Über-Ich, was im Grunde sagt: Alle Deine Strebungen, seien es jetzt sexuelle Strebungen, seien es sonstige Bedürfnisse nach Entwicklung, nach Autonomie, nach Unterstützung, die werden nicht erfüllt, weil sozusagen diese Mutterfunktion nicht vorhanden ist, also die Mutter gibt der Mutter nicht das, was sie braucht und wird aber dann überhöht zu einer Art Madonna, die sehr, sehr rigide mit dem Kind umgeht. Es wird ja im Alter von drei Jahren von den Eltern weggenommen. Das ist eigentlich die Zeit, wo das Kind autonom werden möchte und sie wird diesem Diktat des strengen Über-Ichs unterworfen und dadurch wird schonmal die Autonomienentwicklung gestoppt.
Das ist bei Frauen mit einer weiblich-narzisstischen Struktur wirklich so. Die trauen sich nicht, wirklich autonom zu sein. Die trauen sich nicht, ihre Bedürfnisse zu leben. Die haben, wenn sie Sexualität leben, ist es oftmals verbunden mit Verbot, mit „ich bin eine Hure, das darf nicht sein“, also das ist ganz viel Unsicherheit in ihnen und das hat sehr, sehr viel mit diesem Verbot durch diese, ja scheinbaren, moralisch überhöhten Mutterfigur zu tun, die letztendlich dem Kind dieselbe Botschaft gibt wie eine narzisstische Mutter, die das sagt: „Du musst so sein, wie ich Dich haben will, dann liebe ich Dich. Wenn Du anders bist, dann wirst Du einen Makel kriegen“ – und das ist im Märchen eben dieser goldene Finger. Da hat die Tochter sich getraut, in einen Bereich einzubrechen, wo sie gar nicht einbrechen darf. In dem Fall war es eben die Sexualität. Das ist sozusagen das Grundthema auch der weiblich-narzisstischen Thematik, dieses Verbot von Lebendigkeit, das Verbot, so sein zu dürfen, wie man selber ist.
Drees: Wir haben jetzt über sehr viel gesprochen, Frau Wardetzki. Wir haben uns mit Schmerz beschäftigt, der bereits geboren ist im Schatz alter Sagen, Märchen und Mythen. Da ein Ostermontag auch ein Freudentag sein darf, lassen Sie uns gern zum Abschluss einen versöhnlich-positiven Ausblick wagen. Als Psychotherapeutin besteht Ihre herausgehobene Fähigkeit in der Veränderung und auch wenn die Fama existiert, Narzisstinnen und Narzissten seien quasi untherapierbar: Wie können sie sich dennoch lösen von dieser Krankheit, was kann der Einzelne tun und worin liegt die therapeutische Chance, vielleicht auch: in einem Märchen?
Wardetzki: Die Chance liegt ganz sicher in der sogenannten narzisstischen Abrüstung. Das heißt, dass man sich nicht mehr der Unmenschlichkeit des falschen Selbst unterwirft, also zum Beispiel dieser Madonnenmutter, sondern dass man anfängt, fehlerhaft zu werden, dass man anfängt, menschlich zu werden, dass wir anfangen, uns wieder unserem Schneewittchen zuzuwenden und die Gefühle und die Bedürfnisse und so wie wir sind zu entdecken und zu leben. Dieser Teil ist einfach eine enorme Abenteuerreise zu sich selber. Man muss sozusagen von der Grandiosität und der Minderwertigkeit sich dem wahren Selbst annähern und findet dabei natürlich ganz viele wunderbare Seiten in sich – zwar auch Ängste, weil man das Alte loslassen muss, aber am Ende kommt raus: „Ich bin ein Mensch, so wie ich bin und ich finde immer mehr von mir selber und kann Abschied nehmen von diesen ganzen Vorstellungen, wie ich zu sein habe und komme mehr mit meiner Lebensfreude und mit meiner Lebenskraft auch in Kontakt.“
Bärbel Wardetzki: „Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung“, Kösel-Verlag, München, 324 Seiten, 20 Euro / Das Hörbuch, gelesen von Sonngard Dressler ist erschienen bei Lagato Leipzig. / Das Beitragsbild zeigt eine kuriose Koinzidenz, denn das Stock-Photo-Model, das der Verlag gewählt hat für die Neuauflage von „Weiblicher Narzissmus“ schmückt zugleich eine Kampagne des Dlf.