Der beeindruckende Roman „Das verlorene Paradies“ von Literatur-Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah ist endlich wieder auf Deutsch erhältlich. Unterhaltsamer und aufrichtiger kann Humanismus kaum dargestellt werden.
Bekanntlich ist nicht alles paradiesisch, was vorgibt, ein Paradies zu sein – was in Deutschland bislang niemanden gehindert hat, ein weiteres Schnitzel-, Bade-, oder Bastelparadies zu eröffnen, das uns ablenken will vom göttlichen Los, dass wir unser Brot essen müssen im Schweiße des eigenen Angesichts. Der 1948 im damaligen Sultanat Sansibar – dem heutigen Tansania – geborene Abdulrazak Gurnah spielt gleich im ersten Satz seines beeindruckenden Romans „Das verlorene Paradies“ mit der biblischen Schöpfungsgeschichte, wenn er schreibt: „The boy first“ – auf Deutsch „Zuerst der Junge“ – denn so beginnt auch das 1. Buch Mose, Kapitel 2, wenn „Gott, der Herr“ aus einem Erdklumpen zunächst Adam schafft:
„Erst der Junge. Sein Name war Yusuf, und in seinem zwölften Jahr verließ er ganz überraschend sein Zuhause. Er erinnerte sich, es war die Zeit der Dürre, in der ein Tag war wie der andere. Unvermutete Blumen blühten auf und welkten. Seltsame Insekten flüchteten aus ihrem Versteck unter Felsbrocken und wanden und krümmten sich in dem glühend heißen Licht, bis sie starben. Die Sonne ließ Bäume in der Ferne zittern und die Häuser leicht schwanken und nach Atem ringen.“
Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren
Auch wenn vielfach darauf hingewiesen wurde, dass der Roman von Gurnah vor allem an die Erzählungen des Korans angelehnt ist – dieser Eröffnungsabsatz enthält in Kürze die biblische Genesis-Geschichte. Es kommen vor ein Mann, die Vertreibung und die Dürre, in der alles stirbt, man denkt unweigerlich an diesen Satz: „Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren.“ Gurnah weiß, wie er aus einem fernen Land berichten und gleichzeitig die auch mit Europa und dem Christentum verbindenden Wurzeln offenlegen kann.
„Paradise“, auf Deutsch übersetzt als „Das verlorene Paradies“, spielt im arabisch kolonisierten Tansania des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als die kulturelle und administrative Macht von den jahrhundertelang dominanten Arabern von Europäer übernommen wurde – wovon aber Yusuf mehr Ahnung denn Wissen hat, dieser naive Junge, der unter ärmlichen Bedingungen in einem kleinen Kaff aufwächst, wo sein Vater ein ebenfalls sehr kleines Hotel mit lediglich vier Betten betreibt. Die Geschäfte laufen schlecht, permanent hat Yusuf Hunger und „wenn er nach etwas zu essen quengelte, sagte seine Mutter, er solle die Würmer essen. ‚Ich habe Hunger’, jammerte er ihr die Litanei vor, die niemand ihm beigebracht hatte und die er jedes Jahr mit lauterem Murren herunterleierte. ‚Iss Holzwürmer’, schlug seine Mutter vor und lachte dann über den übertriebenen Ausdruck entsetzten Ekels auf seinem Gesicht. ‚Na los, stopf dich damit voll, wann immer du Lust hast. Nur zu.’“
Die sieben Himmel des Koran
Das klingt böse und ist nicht nur einer der harmloseren Scherze in diesem kompromisslosen Buch, sondern auch eine weitere Paradies-Anspielung: Die Schlange wird einerseits zum Wurm und Würmer sind andererseits ganz real ein delikater Snack in tropischen Breitengraden. – Yusuf, benannt nach dem gleichnamigen Koran-Propheten – in der Bibel kennen wir ihn als träumenden, von seinen Brüdern verstoßenen Josef – widerfährt ein furchtbares Unglück, nämlich die Vertreibung aus dem Paradies. Weil die Schuldenlast für seinen Vater unerträglich wird, gibt er den eigenen Sohn fort. Yusuf muss bei einem reichen, arabischen Gläubiger schuften. Er lernt dort einen neuen Freund kennen und erfährt schnell am eigenen Leib, dass die Welt um ihn herum im Wandel und das titelgebende Paradies sehr fern sein muss, gleichgültig, ob damit das Paradies aus der Bibel gemeint ist oder der siebte Himmel aus dem Koran mit dem „Jennet al Adn“, dem Garten Eden, auf seiner höchsten Stufe, oder die realen Terrassengärten, von denen ein Weggefährte Yusufs in blumigen Worten schwärmt.
„’Solche Gärten haben wir in Indien, mit sieben, acht und noch mehr Ebenen’, erklärte Kalasinga. ‚Von den barbarischen Moguln angelegt. Auf den Terrassen haben sie Orgien gefeiert und im Garten Tiere gehalten, sodass sie auf die Jagd gehen konnten, wenn ihnen danach zumute war. Das muss also das Paradies sein, und dein Paradies ist Indien. Indien ist ein wahrhaft göttlicher Ort.’ ‚Glaubst du, Gott ist verrückt?’, fragte Hamid. ‚Das Paradies nach Indien zu verlegen!’“
Jahrhundertelang hatte eine arabisch-muslimische Schicht die Macht in Tansania. Diese Macht schwindet nun zugunsten europäischer Kolonisten; worunter auch der neue Herr des naiven Yusuf leidet. Auf diese Weise betont „Das verlorene Paradies“, dass egal woher wir kommen, egal, wie wir aussehen, wir doch ähnliche Sehnsüchte, Hoffnungen, Wünsche haben – Inder ebenso wie Araber oder die Einheimischen von den Küsten Ostafrikas. Leichthin zeigt Gurnahs Roman die vielstimmige, multiethnische, multireligiöse Bevölkerungsstruktur Tansanias, dieses vielfach ausgebeuteten Land. Was möglicherweise erdenschwer klingt, aber nicht so erzählt wird. Sehr viel Lebensfreude steckt in dieser Geschichte, was beispielhaft illustriert werden kann als ein larmoyantes Gespräch über die deutschen Kolonialherren von einer der muslimischen Figuren unterbrochen wird: „was soll dieses trübsinnige Gerede. Was ist denn so wundervoll an dem Leben, das wir führen? Haben wir nicht genug, das auf uns lastet, auch ohne solche schrecklichen Vorhersagen? Alles liegt in Gottes Hand und so soll es auch bleiben. Vielleicht ändern sich die Dinge, aber nach wie vor wird die Sonne im Osten aufgehen und im Westen untergehen. Schluß mit diesem verdrießlichen Geschwätz.“
Der verkauft seine eigene Mutter
Yusuf muss im Geschäft des Arabers schuften. Doch als hätte er dessen Worte bereits mit der Muttermilch aufgesogen, bleibt er trotz seiner beklagenswerten Lage heiter gestimmt, freundlich, geradezu rührend in seiner Naivität, pflichtbewusst noch in der Umsetzung absurdester Anweisungen. „’Wenn ein Kunde einen Witz macht, lächele, bis du einen Furz läßt, wenn es sein muß, aber wage es nicht gelangweilt dreinzuschauen.’
Mit Darmwinden geizt Gurnah nicht. Viel später wird er auf diese und auch auf andere körperliche Unflätigkeiten zurückkommen, weshalb „Das verlorene Paradies“ immer mal wieder derb wirkt. Es werden schmutzige Witze gerissen, häufig auf Kosten von Yusuf, diesem naiven Schönling, der von Frauen wie Männern gleichermaßen begehrt wird, was ihn zur Zielscheibe spöttischer Bemerkungen werden lässt, so wie sich die Figuren ohnehin permanent gegenseitig aufziehen; die Inder die Tansanier, die wiederum die Araber, die Araber im Gegenzug die Inder: „’Traue nie einem Inder!’ stieß Mohammed Abdalla wütend hervor. ‚Der verkauft dir seine eigene Mutter, wenn es einen Gewinn abwirft. Seine Geldgier kennt keine Grenzen. Wenn du einen siehst, macht er einen schwachen und ängstlichen Eindruck, aber für Geld wird er überall hingehen und alles tun.“
Knöpfe, Perlen, Spiegel und anderes wertloses Zeug
Im Mittelteil dieses Romans zieht Yusuf als Handlanger mit einem bunten Tross angeheuerter Männer durchs Binnenland, um Karawanenhandel zu treiben. „Sie hatten Werkzeuge und Geräte aus Eisen dabei: Hacken und Äxte aus Indien, amerikanische Messer und deutsche Vorhängeschlösser. Und Stoffe verschiedenster Art: Kattun, kaniki, weißen Baumwollstoff, bafta, Musselin, gestreiftes Tuch. Dazu Knöpfe, Perlen, Spiegel und anderes wertloses Zeug, das sich als Geschenk eignete.“
Aufgrund der Gräueltaten und Absurditäten, die das Expeditionsteam dort erlebt, wurde „Das verlorene Paradies“ hin und wieder verglichen mit Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ – aber dieser Vergleich hinkt. Gurnahs Blick ist menschenfreundlicher, ausgestattet mit einem feinen Gespür für Nuancen und Schattierungen dort, wo der polnisch-britische Schriftsteller hundert Jahre zuvor einfach nur Finsternis vermutete. Auf Gurnahs Reise gibt es echte, glaubwürdigere „Clash of Culture“-Begegnungen. Nicht nur das Expeditionsteam ist zusammengewürfelt. Sie treffen auch auf Einheimische, die sich mal mehr, mal weniger konziliant verhalten. Und sie tauschen untereinander Geschichten aus, ohnehin wird auffallen viel erzählt in diesem Buch, beispielsweise von den Russen, die als sehr unkultiviert beschrieben werden:
„Das Volk der Rusi war nicht zivilisiert, anders als die Deutschen, hatte sein Onkel erklärt. Auf ihren Reisen durch das Land waren sie eines Tages in eine kleine Stadt gekommen, in der jedes menschliche Wesen – Mann, Frau und Kind – stockbetrunken gewesen war. Sikufanyieni maskhara, für die Welt verloren. Diese Roheit ließ in seinem Onkel die Vermutung aufkeimen, sie befänden sich im Lande von Gog und Magog, das an das Land des Islam grenzt.“
Esst ekelerregendes Pulver
Auf diese Weise dreht Abdulrazak Gurnah sehr geschickt den fremd-rassistischen Blick auf eine andere Kultur – gleichgültig ist hier, welche Kultur auf die jeweils andere schaut. Als sich die tansanischen Expediteure während eines krachenden Gewitters ängstigen, werden sie von den Arabern verlacht: „Warum singt ihr nicht ein Lied, um den bösen Zauber zu bannen? Oder esst ekelerregendes Pulver, das irgend so ein Hexenmeister für Euch zubereitet hat? Kennt ihr keine Zaubersprüche? Warum schlachtet ihr nicht eine Ziege und lest in ihren Eingeweiden? Ihr Leute seid versessen auf Dämonen und Vorzeichen. Und ihr bezeichnet euch selber als Männer von Ehre und tut so großartig. Los schon, singt uns ein Lied, um den bösen Zauber zu vertreiben.“
Das hilfreiche, neu erstellte Glossar am Ende des Buchs gibt einen Eindruck jenes hierzulande kaum bekannten Wissens, das aus den beschriebenen Kulturen geborgen wird. Dort wird erhellt, wer die immer wieder auftauchenden Gog und Magog sind, nämlich eigentlich Ya’dschudsch und Ma’dschudsch, zwei Völker im Westen, die der sogenannte „Zweigehörnte“ aus der 18. Koransure bekämpft und besiegt hat.
Deutsche strafen gern
Keinesfalls schmeichelhaft ist, dass auch die deutschen Offiziere als Gog und Magog beschrieben werden, als Bestien – mit roten Gesichtern und Haaren in den Ohren – als erbarmungslose und möglicherweise deshalb so gefürchtete Pedanten, bei denen jeder Verstoß bestraft wird, gleichgültig, ob die Opfer um Gnade flehen oder geloben, sich zu bessern.
„Wenn bei uns ein Schuldiger Reue zeigt, fällt es uns schwer, ihn zu bestrafen, vor allem wenn der Urteilsspruch hart ist. Leute kommen, legen ein gutes Wort für ihn ein und bitten für ihn, und wir alle haben Menschen, die uns nahestehen und jämmerlich wehklagen. Beim Deutschen ist es genau anders herum. Je härter die Strafe, desto unerbittlicher und unversöhnlicher ist er. Und die Bestrafung ist immer hart. Ich glaube, sie strafen gerne. Sobald der Deutsche das Urteil über dich gefällt hat, kannst du bitten und flehen, bis dir die Zunge anschwillt, er wird vor dir stehen, mit unbewegtem Gesicht und ohne Scham.“
Wegen Stellen wie der gerade gehörten, gab es in den vergangenen Monaten immer wieder die Vermutung, Abdulrazak Gurnahs literarisches Werk sei hierzulande unbekannt geblieben, weil es über die deutsche Kolonialgeschichte nachdenkt. „Das verlorene Paradies“ lässt diese Annahme keinesfalls zu, denn die Welt wird hier nicht schuldzuweisend, sondern in der ihr gemäßen Komplexität dargestellt; mal ganz davon abgesehen, dass Sansibar nie eine deutsche Kolonie war, sondern stets ein freies Sultanat. Der Roman erinnert daran – im Sinne seiner ausgestellten Komplexität, dass der dortige Sklavenhandel vor allem arabisch geprägt war. Eine der Figuren erzählt die Geschichte freiheraus: „Du denkst vielleicht: Wie kommt es, dass binnen so kurzer Zeit so viele Araber hierherkamen? Als sie hier auftauchten, war es so einfach, Sklaven zu kaufen, wie Obst von einem Baum zu pflücken. Sie brauchten ihre Opfer nicht einmal selbst zu fangen, obwohl einige dies zu ihrem Vergnügen taten. Es gab genügend Leute, die nur zu gerne bereit waren, ihre Cousins und Nachbarn für irgendwelchen Tand zu verkaufen.“
Kein Gefühl von Exotismus
„Das verlorene Paradies“ erlaubt sich die komplexe Darstellung einer Welt, die gleichzeitig mit einer sehr großen, offenherzigen Lust am Erzählen entfaltet wird – und das auf sehr britische Weise. Seit Ende der 1960er Jahre lebt Abdulrazak Gurnah in Großbritannien, hat dort als Literaturprofessor gearbeitet. Und das spürt man; der Leser kennt vielleicht nicht alle Speisen, kann nicht jedes hier beschriebene Kleidungsstück zuordnen, aber es entsteht kein Gefühl von Exotismus. Vielmehr gehen alle Figuren wie Fremde durch ihr Leben, schwankend, ohne Halt – und ohne Aussicht auf ein Paradies.
Leid und die Absurditäten des menschlichen Daseins stehen immer zusammen. Tragik auf der einen und Komik auf der anderen Seite werden gleichzeitig betrachtet in einer Weise, die eben nicht zum Moralisieren einlädt, sondern dazu, die eigenen Sinne zu schärfen, genauer hinzusehen, hinzuhören – so wie auch die Figuren aufmerksame Zuhörer der mannigfaltigen, geradezu zelebriert vorgetragenen Geschichten sind.
„An den Abenden saß Yusuf mit Hamid und dessen Gästen oder Freunden, die auf einen Sprung vorbeigekommen waren, auf der Terrasse. Er musste da sein, um Kaffee zu servieren, Gläser mit Wasser zu füllen und manchmal auch, um als Zielscheibe ihrer Witze zu dienen. Sie saßen auf Matten um eine Lampe herum, die auf dem Boden stand. Waren die Nächte dort oben auf dem Berg kühl oder regnete es, brachte er einen Armvoll Tücher, die die Gäste sich um die Schultern legten. Ein Stückchen abseits von der Gruppe sitzend, wie es ihm seinem Alter und seiner Stellung nach zustand, lauschte Yusuf ihren Berichten über Mrima und Bagamoyo und die Inseln Mafia und Lamu und Ajemi und Shams und hundert andere verzauberte Orte.“
Aufrichtiger kann Humanismus nicht sein
Glücklicherweise kann Abdulrazak Gurnah wieder auf Deutsch gelesen und seinen Figuren zugehört, ihnen zu zahlreichen verzauberten Orten gefolgt werden. Nach „Das verlorene Paradies“ sollen weitere Übersetzungen im kommenden Jahr folgen. Wir können uns freuen auf einen großen Schriftsteller. – Ausgezeichnet wurde dieser bemerkenswerte Autor laut Nobelpreis-Komitee „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten.“ Noch herausragender ist jedoch Gurnahs gelungene Darstellung dessen, was uns alle als Menschen gleichermaßen verbindet. Unterhaltsamer und aufrichtiger kann Humanismus kaum dargestellt werden.
Abdulrazak Gurnah: „Das verlorene Paradies“, aus dem Englischen von Inge Leipold, Penguin, München, 336 Seiten, 25 Euro / der Audiobeitrag kann hier nachgehört werden.