Auf zu Schwarz-Weiß Essen, Westfalia Herne, den BVB: Fußballexperte Christoph Biermann erzählt was passiert, „Wenn wir vom Fußball träumen“. Es ist eine Heimreise auf 256 Seiten in den Ruhrpott, eine der prägendsten Regionen Europas.
„Das Ruhrgebiet ist begründet auf Kohle und Stahl. Und Kohle und Stahl gibt es fast nicht mehr. Deshalb stellt sich natürlich schon die Frage. Was machen wir hier im Ruhrgebiet eigentlich noch? Warum sind wir hier eigentlich noch?“, sagt Christoph Biermann im Interview. „Ich glaube, dass die Fußballvereine eine der Antworten darauf geben. Eine sehr emotionale Antwort. Die großen Clubs sind etwas, das richtig funktioniert. Die sind erfolgreich, die machen Spaß, und deshalb sind sie fürs Ruhrgebiet sehr sehr wichtig.“
Früher ist Christoph Biermann mit seinem Vater zu den Spielen von Westfalia Herne gefahren. Doch inzwischen ist seine „Vertrautheit des Nach-Hause-Kommens“ immer mehr Illusion. Dennoch gilt: „Hamburger Fußball ist einfach nur Fußball in Hamburg oder bayrischer Fußball eben Fußball in Bayern, aber beim Begriff Ruhrgebietsfußball kommt etwas hinzu.“ Was den Unterschied ausmacht, beschriebt er auf seiner „Heimreise“, die ihn von den proletarischen Mannschaften der 50er und 60er Jahre über das legendäre 0:12 (Borussia Dortmund unterliegt 1978 Borussia Mönchengladbach) bis zum Fanfriedhof von Schalke 04 führt.
Er sieht das Phänomen Pottfußball in den Hochzeiten der Kohleförderung begründet, „in einer Schattenwelt mit offiziellen Anstellungen, wo die Spieler mehr oder weniger arbeiten mussten, plus kleiner Summen aus ihren Spielerverträgen plus illegaler Handgelder, Prämien oder Sondervergünstigungen. In jener Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und der Prosperität des Wirtschaftswunders hatte das Ruhrgebiet für diese Art von Profifußball einen Standortvorteil. 1956 arbeiteten auf dem Höhepunkt der Kohleförderung 680000 Bergleute auf den Zechen.“
Die Kicker wurden unter Tage geschont und mussten dafür auf dem Spielfeld umso härter ran, wie es bereits das massgebliche Buch „Sind doch nicht alle Beckenbauers“ (von Rolf Lindner und Heinrich Brauer, 1989) schildert, wo die Verbindung von Fußball, Arbeit und Leben einen besonderen Stil schuf: „Hervorragendes Beispiel proletarischer Mannschaften ist neben der Härte die mannschaftliche Geschlossenheit, die Ausdruck der Zusammenfassung der Proletarier in der Produktion ist.“
Man merkt es schon: „Wenn wir vom Fußball träumen“ ist, wie nahezu alle Bücher Christoph Biermanns, weit weit vom Faktensammeln und Statistikenbauen entfernt. Er sieht Fußball als Kulturphänomen und kommt sowohl seiner Vergangenheit, als auch den persönlichen Storys seiner Interviewten nah. „Ich glaube, dass die Fußballvereine im Ruhrgebiet für ihre Fans einfach existentiell wichtig sind“, sagt er im Interview. „Das hat viel mit Heimatgefühl, mit Identität, mit Zugehörigkeit, mit Verbindungen zur Geschichte zu tun.“ Und diese Geschichte fängt viel früher und ganz anders an als vermutet.
„Fußball war in Deutschland zu Beginn ein bürgerliches Spiel, und um die Wende zum 20. Jahrhundert waren Städte wie Berlin, Hamburg, Hannover, Leipzig, Dresden, Düsseldorf, Köln oder Frankfurt Hochburgen und nicht etwa das Ruhrgebiet. ‚Die Spieler waren Juristen. Ärzte, Journalisten, Universitätsprofessoren, Offiziere, vor allem aber technische und kaufmännische Angestellte‘, schreibt Ludger Claßen in seinem Aufsatz ‚Fußballmetropole Ruhrgebiet. Mythos Fußball und Arbeiter‘, aus dem ein Buch erwachsen soll. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs blieb es dabei, danach wuchs das Interesse am Fußball fast explosionsartig.
Claßen glaubt, dass für diese Entwicklung maßgebend ein Militärerlass aus dem Jahr 1910 war, der Fußball in den Ausbildungsplänen für Soldaten verankerte. Daher stammt auch die militärische Begrifflichkeit ‚Schuss‘, ‚Flanke‘, ‚Deckung‘, ‚Sturm‘, ‚Flügel‘, ‚Feld‘ oder ‚Schlachtenbummler‘, worauf die Historikerin Christiane Eisenberg als Erste hingewiesen hat. Kurzum: Viele Soldaten kehrten als Fußballspieler aus dem Krieg zurück, weil sie das Spiel dort kennengelernt hatten.“
Es sind Szenen wie diese, geschichtliche Flanken von der Gegenwart in die Frühzeit des Fußballs, die Verbindung von Lokalkolorit, Sozialhistorie und bestem 11-Freunde-Wissen, das „Wenn wir vom Fußball träumen“ mal wieder aus den gängigen Sportbüchern der Saison herausheben – zugleich erinnert Biermanns Bericht an die vielen anderen Ruhrgebietsbücher der vergangenen Jahre wie „Ruß“ von Feridun Zaimoglu, an „Das Ruhrgebietsbuch“ von Jörg Sundermeier und Markus Weckesser, an „Die Baldeney-Dynastie“ von Nora Bossong auch an „111 Gründe den Ruhrpott zu lieben“ von Kai Twilfer (hier im Blog), der den bunten, leicht abgefuckten Charakter des Potts auf 278 Seiten beschreibt; die Musicals, Theaterfestivals und Altstädte auf der einen, die Erinnerung an Extraschichten, Waschkauen, Maloche auf der anderern. Kurz gesagt besteht das Ruhrgebiet aus der A40 und Folkwang, aus Trinkhallen und dem Bochumer Schauspiel, aus heruntergekommenen Tanken und dem Schloss Oberhausen.
Eine Homogenität kann dann eher hergestellt werden mittel der prägenden Industriebilder von Bernd und Hilla Becher. Die Schönheit und Abstraktionsmöglichkeit der Industrie sieht man beispielsweise in dem bemerkenswerten Band „Grundformen“, 2014 bei Schirmer/Mosel erschienen. Wenn Gunilla Knape im Vorwort bemerkt, dass die Bilder der Bechers zeigen, in welcher Weise Industriearchitektur „ganz von ihrer jeweiligen Funktion her bestimmt ist“, hat man schon den Schlüssel zur Weltsicht des Ruhrgebiets, dieses durchfunktionalisierten Gebiets. Bis man sich dort in den Kopf setzte, Essen, Dortmund, Gelsenkirchen usw. umzubauen als Kulturlandschaft, war man dort nicht von „L’art pour l’art“ umgeben. Siedlungen entstanden, weil Bergarbeiter nah an der Zeche wohnen sollten und zugleich als Gemeinschaft eine Kollektivüberwachung sicherstellten. Schnörkelloses Wohnen. Nicht Kirchen waren die höchsten Gebäude einer Stadt, sondern die stets an die Maloche gemahnenden Fördertürme.
Man erkennt in den Bildern der Bechers etwas Typisches. Zugleich, das bemerkt Susanne Lange in ihrer ebenfalls im „Grundformen“-Buch abgedruckten „Stilgeschichte der kalkulierten Form“, setzen Bernd und Hilla Bechers „Photografien von Wassertürmen, Fördertürmen, Hochöfen, Silos oder Gasbehältern auch wahrnehmungsästhetisch neue Maßstäbe, indem sie den bis dahin kaum für die Öffentlichkeit zugänglichen und überwiegend mit negativen Konnotationen verbundenen Bereich der Schwerindustrie für eine künstlerische Betrachtung“ erschließen.
Wahrscheinlich fing alles an mit Kohle und Stahl. „Behelfsmäßig wurde anfangs vom Rheinisch-westfälischen Industriebezirk, dem Kohlenbezirk oder Ruhrrevier gesprochen“, schreibt Biermann. „Erst 1920 entstand mit dem Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk, dem Vorgänger des heutigen Regionalverbandes Ruhrgebiet, eine Organisation, die über die Stadtgrenzen hinwegging. Aber bis heute gibt es das Ruhrgebiet nicht: weder als geografisch klar definiertes Gebiet, geschweige denn als politische Einheit.“ Inzwischen ist der Pott weiter – und hängt viel mehr an seiner Geschichte als zum Beispiel die Textilstadt Wuppertal. Aus ihr kommt der ganze Stolz, Arbeitshaltung, eine Sprache, die deshalb ungekünstelt ist, weil man unter Tage zackig warnen muss (und es für Dialektik eh zu laut ist). Geblieben ist: Der Fußball, was Biermann mit einer ebenso anrührenden wie bitteren Ankedote belegt:
„Nachdem [VfL Bochum-Trainer] Peter Neururer bei seinem ersten Spiel in Cottbus mit 1:0 gewonnen hatte, wurde eine Woche später beim Heimspiel gegen den FC St. Pauli ein Transparent in der Ostkurve hochgehalten: DIE OPELANER HATTEN KEINE CHANCE / IHR SCHON / KÄMPFEN FÜR BOCHUM Bochum gewann mit 3:0, dann auch noch in Sandhausen und eben gegen Köln, Damit hatte Neurure den Klub nicht nur gerettet, er hatte dabei auch auf unglaubliche Weise das Publikum mobilisiert. Monatelang waren immer mehr Zuschauer daheimgeblieben, plötzlich waren die Spiele ausverkauft.“
Christoph Biermann: „Wenn wir vom Fußball träumen – Eine Heimreise“, KiWi, 18,99 Euro, 256 Seiten / Kai Twilfer: „111 Gründe, den Ruhrpott zu lieben“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 278 Seiten, 9,95 Euro“ Die mittig abgebildete Doppelseite ist aus dem Buch / Bernd & Hilla Becher: „Basic Forms; Grundformen“, Schirmer/Mosel, Deutsch/englische Ausgabe, mit einem Text von Susanne Lange, 160 Seiten, 61 Duotone-Tafeln, 29,80 Euro