Michael Wildenhain aus Berlin, früher Hausbesetzer, jetzt Anwärter auf den Preis der Leipziger Buchmesse, legt mit seinem Roman „Das Lächeln der Alligatoren“ einen RAF-Roman vor. Oder doch nicht? Seine Geschichte erzählt auf verschachtelte Weise vom kalten Herz der Revolution und einer Liebe, die dem Klassenkampf geopfert wird.
Vor wenigen Wochen beschrieb Schriftstellerin Ulrike Draesner in diesem Interview, weshalb sie die Form der so genannte „kleine Geschichte“ interessiert, eben jene Erzählung privater Natur, die beispielsweise um einen Terrorakt herum erzählt werden kann. Die „kleine Geschichte“ berichtet von gewöhnlichen Menschen, deren Alltag vom Schrecken affiziert wird. Hier findet etwas in neuen Möglichkeitsräumen statt. Hier erlaubt die Literatur eine alternative Sicht. Hier kann vom Gegenteil aus beobachtet werden.
Augenscheinlich ist, dass ein Unterschied zwischen subjektivem und kollektivem Gedächtnis existiert. Doch eben dieser Unterschied wird erst dann deutlich, wenn man einem Zeitzeugen privat gegenübersitzt und er auf alternative Weise über medial längst gesicherte Ereignisse oder Personen berichtet. „Er roch gut nach Pfeifentabak.“ Dieser Satz von Ferdinand von Schirach über seinen Großvater Baldur, den einstigen NS-Reichsjugendführer, der in den 1940er Jahren 80.000 Wiener Juden deportieren ließ, markiert ein Differenz, die nicht vom Politischen berührt werden kann. Sobald es übrigens um Erinnerungen geht, die das kollektive Gedächtnis betreffen, spricht der Enkel stets den kompletten Namen des schuldigen Verwandten aus: der eigene „Großvater“ wird zum fremden „Baldur von Schirach“, zu einem Abstraktum, das sich der Enkel einst als junger Mann erst aus Berichten und Artikel neu erschließen musste.
Es umgibt stets etwas Heiliges jene, die das monströs Fremde erlebt oder berührt haben. Das Lächeln des Großvaters kann auch das eines Alligators sein. Doch diese Sichtweise möchte niemand einem Kind zumuten. Mit dem dann auftauchenden sakralen Schaudern, das sich bei späterer Betrachtung einstellt, spielt Michael Wildenhain in seinem knapp 250-seitigen Roman, der sich der oben beschriebenen Differenz zwischen subjektivem und kollektivem Gedächtnis auf zum Teil geschickte Weise annähert. Erzählt wird in drei Lebensabschnitten von Matthias, der zu Beginn seine Ferien auf Sylt verbringt und sich dort, Anfang der 1970er, in die drei Jahre ältere Martha verliebt. „Warum bin ich nicht erwachsen, denkt der Junge. Oder wenigstens sechzehn.“ Schon auf der ersten Seite will er das real Gegebene nicht akzeptieren. Es wird ihn am Ende in eine gigantische Krise stürzen.
„Warum bin ich nicht erwachsen?“, das denkt er aus verschiedenen Gründen. Matthias ist stets verzweifelt – und zwar im Kierkegaardschen Sinne. Denn er will verzweifelt ein anderer sein. Dass er dies hofft hat einerseits mit dem tragischen Grund seines Syltbesuchs zu tun. Auf der Nordseeinsel ist sein jüngerer Bruder in einem Pflegeheim untergebracht. Als die Kinder einst gemeinsam spielten kam es zu einem Unfall, der den Bruder geistig beeinträchtigte, zu einem Unfall, den sich Matthias nicht verzeihen kann. Von steten Schuldgefühlen geplagt, entwickelt sich der Junge zum schamhaft-verkniffenen Beobachter. Martha, die seinen Bruder pflegt, beobachtet er von den Dünen aus, steigt später auch in ihre Wohnung ein, beobachtet ebenfalls seine allein erziehende Mutter, die heimlich mit dem Vermieter Sex hat: „Das kleine Licht beleuchtet den nackten Po des Vermieters, der sich die Hose geöffnet hat, die ihm samt seitlich herabhängender Hosenträger von den Hinternbacken gleitet, während sein Glied, nicht richtig steif, aus dem Bauch der Mutter, ihrem Unterleib herausrutscht, den Vaginalkanal verlässt, ein Wort von Dr. Sommer aus der Bravo.“
Sein Vater, der den Knaben vielleicht sanfter als Bravos Dr. Sommer hätte aufklären können, ist verschwunden, hat sich von der eigenen Familie entfernt: „Ungern und dennoch deutlich erinnere ich mich an einen Vater, der den Zustand meines Bruders später nicht mehr ertragen konnte und uns verlassen hat. Ich wäre ihm gern gefolgt.“ Ich wäre. Ich hätte. Ich würde. Es ist kein Zufall, dass Wildenhain dem Roman folgenden Satz von Per Olov Enquist vorangestellt hat: „Es sind die Faulen und Unfähigen, die die Welt als Chaos erleben.“ Matthias mag keineswegs faul sein – aber mit seiner Unfähigkeit, wenigstens die eigenen Gefühle angemessen zu artikulieren, kämpft er doch.
Das wird noch einmal deutlich im zweiten Teil des Romans. Matthias ist inzwischen von seinem Onkel großgezogen worden, den er konsequenterweise als Vater anspricht, sich also ohne Murren in eine Wahlverwandtschaft fügt. Der neue Vater praktiziert als Medizin- und Psychologieprofessor in Berlin. Es ist 1977. Der Heiße Herbst steht bevor. In hoch politisierter Stimmung trifft Matthias erneut auf Martha, die sich verändert, die ein kühleres Wesen bekommen hat. Mögen die Namen der beiden phonetisch ähnlich klingen – lebensweltlich existiert keine Nähe. Diese existiert nicht einmal dann, als die beiden eine Affaire beginnen. Es dauert lange, bis Matthias hinter den wahren Grund dieser unvermuteten Idylle kommt.
Ebenso, wie seine Ferien auf Sylt einen fürchterlichen Anlass haben, muss er nun sehen, dass auch die Liebe zu Martha barbarischem Kalkül entspringt. Denn mitnichten hat sie, die Frau mit dem kalten Herzen, die sich von ihrem Freund nicht einmal fotografieren lässt, ein amouröses Interesse. Sie will durch ihn an den Ziehvater herankommen, an den Professor der Uniklinik Berlin, der als Kommissionsangehöriger verantwortlich gemacht werden soll für den Hungertod des RAF-Terroristen Holgern Meins. Die Liebe zwischen Martha und Matthias ist also nur vorgespiegelt, um einen Mordplan der RAF zu verwirklichen. Das erkennt der verblendete junge Mann fatalerweise zu spät – und wird erneut schuldlos schuldig, wie bei jenem Unfall mit seinem Bruder, den er sich zeitlebens vorwerfen wird. Dieser erste Unfall, diese Ur-Katastrophe entsprang ebenso einem Spiel wie nun das Attentat am Onkel. Als Matthias das kapiert, ist er verloren. Was einen tätigen, fähigen Menschen wie Ferdinand von Schirach auszeichnet, dass er nämlich private und kollektive Erinnerung in ihrer Differenz akzeptieren und nebeneinander existieren lassen kann, überfordert den Helden des Romans.
Der Leser ist manchmal auch überfordert – und das liegt an einer bedeutsamen Schwäche des Textes, der doch selbst von der Schwäche erzählen will. Michael Wildenhain, Portraitist der revoltierenden Generation nach 1968, Hausbesetzer in den frühen 1980ern, bekennendes Parteimitglied der Linken, bewegt sich als Zeitgenosse traumwandlerisch sicher durch Jahrzehnte, deren genauere Verortung dem Text gut getan hätte. So stehen Ereignisse im erzählerisch luftleeren Raum und bekommen erst dann Plausibilität, wenn der Leser die nicht direkt chronologisch erzählten Episoden blitzschnell einzuordnen weiß. Daher ist es hilfreich, sich bei der Lektüre stets zu vergegenwärtigen, am besten legt man sich diese Zeittafel direkt neben das Buch: 1969 ist Matthias zwölf, 1971 mit Martha als 14-Jähriger auf Sylt. 1974 stirbt RAF-Terrorist Holger Meins in Haft an den Folgen eines Hungerstreiks. 2002 findet das letzte Treffen zwischen Martha und Matthias statt. Es fällt der Satz: „Heute fliegen Flugzeuge in Hochhäuser, meine Zeit ist vorbei.“
Zum Schluss verführt Martha, inzwischen Ende Vierzig, auf eher rüde Weise den Familienvater und frisch berufenen Professor, diesen Hilflosen, der mit Frau und zwei Kindern in Hamburg lebt, seinen Ruf gerade erst erhalten hat, der sich nun aber trotz der gesicherten Fassade erneut aufs Kreuz legen lässt: im wortwörtlichen Sinn. Martha, die er nie hat bekommen können, die ihn becircte als Teenager, die ihn benutzte als junge Frau, degradiert Matthias ein letztes Mal zum Objekt ihrer Begierde. Es kommt einem vor, als beschreibe dieser anfangs zitierte Satz von Per Olov Enquist die unterschiedliche Verfasstheit nicht nur von Matthias, sondern im letzten Beweis auch jene Marthas. Während ihre Pflegekollegin von einst nachwievor im Sylter Heim arbeitet, hat sie weder ein Studium, noch einen Job oder irgendetwas anderes Nennenswertes geschaffen. Ihr Leben als Beschaute, als Objekt hat sie nie zu einem der subjektiven, der konstruktiven Tat wenden können. Aber auch das Nachdenken im Bildungsprivileg, das Matthias zeitlebens vergönnt war, hat ihm mitnichten Standfestigkeit geschenkt. Selbstverständlich wird er mit Martha Sex haben, sich ihr fügen, als hätte er mal wieder keine Wahl. Als er nach dem Akt seine Unterhose anzieht bemerkt Matthias, wie ein letzter Tropfen seines Samens in den Stoff hineinrinnt. Es ist trostlos.
Michael Wildenhain. „Das Lächeln der Alligatoren“, Klett-Cotta, 242 Seiten, 19,95 Euro
[…] und in der vergangenen Woche musste ich mein Brot im WDR hart verdienen, als ich hier und hier und hier Michael Wildenhains Roman „Das Lächeln der Alligatoren“ vorgestellt habe. Gut ist, dass es der […]
[…] bereits in einer Einzelrezension Michael Wildenhains “Das Lächeln der Alligatoren” (hier) und im Überblick die Bücher von Jan Wagner, Teresa Präauer und Norbert Scheuer (hier) vor. […]
[…] sich ausmachen werden. Michael Wildenhains “Das Lächeln der Alligatoren” wurde bereits hier rezensiert – eine Besprechung von Ursula Ackrills “Zeiden, im Januar” erscheint […]
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