Mindestens zehn Jahre ist es her, da traf Bestsellerfresser Wolfgang Nitschke gemeinsam mit Chansonette Nessi Tausendschön unter dem Motto „Die Schöne trifft das Biest“ im Wuppertaler Rex-Theater auf. Tausendschön stellte ihren Partner damals als „Siebtplazierten beim Theodor W. Adorno-Ähnlichkeitswettbewerb“ vor. Nitschke, als Sensenmann, reichte dem Liebchen derweil die schwarze Rose. „In der Kulturindustrie aber entspringt der Stoff bis in seine letzten Elemente derselben Apparatur wie der Jargon, in den er eingeht,“ formulierte Adorno bereits 1944. Tausendschön, Nitschke und der großartige Pianist Herr Rössler am weißen! Flügel funktionierten durch Verweise auf die thematisierten Sujets. Nitschke rezensierte bekannte Bücher prominenter Autoren, wie das „Buch der Menschlichkeit“ des Dalai Lama, „dem heiligen Scherzkeks vom Dach der Welt“ und wandelte hiermit auf den Pfaden Denis Schecks’, imitierte dessen Jargon im abgewandelten Sujet.
Ebenso lonnte damals behauptet werden, Scheck selbst imitiere in seinem neuen Bücher-Magazin Wolfgang Nitschke. Das Neue der Kulturindustrie diffundiert beidseitig und bildet dadurch einen allgemeingültigen Code, der schon bald ausgereizt und ersetzt werden muss. Verrisse als Kabarett: „Über Tote nur Gutes – lassen wir Gott die nächsten zehn Minuten außen vor.“ Mit diesem Satz stellte Nitschke das seiner Ansicht nach „talibanöse“ Machwerk Domkardinal Meissners vor. Wenn Nitschke den „Sackbahnhof“ Alfred Biolek, genauer dessen Buch „10 Jahre Boulevard Bio“ und die darin enthaltenen KiWi-Huldigungen persiflierte, war das zugleich Benjamin Stuckrad-Barre-Zitat: „Heutzutage weiß man doch gar nicht mehr, womit man sich mehr beschäftigen soll: mit der Meinungsbildung (…) oder mit der Meinungsbildung über die Meinung anderer.“ Es geht aber auch anders. Was hiermit zu beweisen wäre:
EINS Dass Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ den Preis der Leipziger Buchmesse 2010 verwehrt wurde, ist die gute Nachricht. Die schlechte: Georg Kleins überambitionierter Nachkriegs-„Roman unserer Kindheit“ gewann. Ausufernd wie eine Nilschwemme beschreibt er eine Kinderclique im Augsburg der 1960er Jahre, zwischen Vogelzüchtern, Kriegsversehrten, Witze erzählenden Ärzten, Nudelpunkt-Sammlern, falschen Bären, einem Fehlharmoniker. Man besucht Schrebergärten, Bierkeller, Tabaklädchen, Fußballplätze. Das neue Telefon erobert die Diele. Hunde heißen Sputnik. Wundertüten enttäuschen mit Plastikringen – viel Hoffnung, noch mehr Nippes. Spannungslos (obwohl ein Mord angekündigt wird), quält sich die Geschichte durch eine bleierne Zeit.
Süßliche Angstsäfte im gelackten Himmel – oder so ähnlich. Kein großes Beschreiben, sondern Literaturhaus-Literatur-Kitsch. ZWEI „Was hatte ich im Studium geglaubt? Dass ich zu einem Kern vordringen würde, zu einem Geheimnis.“ Dass Geheimnisse tödlich sein können erfährt die 35-jährige Liv in diesem wirren Roman. „Die Pastorin“ Liv ist wegen eines düsteren Geheimnisses von Süddeutschland in ein norwegisches Fischerdorf geflohen. Als sich dort eine 19-Jährige erhängt, brechen alte Wunden auf. Und die Pastorin flüchtet erneut, in weitere Geheimnisse, forscht in alten Quellen über einen norwegischen Terrorkampf, der vor 150 Jahren blutig entfacht wurde, als die erste Bibelübersetzung ins Samische, man ahnt es schon, ganz andere Geheimnisse offenbarte – bis zum Schluss viel zu viele Fragen bleiben, zum Beispiel, weshalb Hanne Ørstavik ihre schöne Geschichte im symbolischen Doppelboden beerdigt.
Wie Pastorin Liv predigt dieser Roman im einschläfernden Psalterton über Schuld und Sühne, Freundschaft und Tod. Amen. DREI Lieber aussehen wie David Bowie in seinen Narzissmus- und Dekadenz-Jahren als auch nur ansatzweise „70er Style & Design“ dieses Bandes folgen. Weltraumsessel, Glam-Rock, Wohnmaschinen, Country-Style und knallige Accessoires bilden bis heute ein fabelhaftes Zitat-Reservoir für Hipster, Fashion-Victims und Coffee-to-go-Cafés. Diesen großen Schatz will ein Bildband heben, der an keiner Stelle die Ästhetik der 70er Jahre versteht – allein die Fonds unter den Bildern sind eine Katastrophe. Dazu sind etliche Artikel fehlerhaft (der verschwurbelte Text über „Semiotik und Stil“ liest sich wie eine Titanic-Parodie aufs Popfeuilleton).
Dieses dicke Buch wirkt wie ein wahllos ausgedrucktes Google-Fotosuchergebnis und ist bestimmt keine Coffeetable-Alternative zum Netz. Wenn Layouts wie Gesellenstücke vom Fachverband blinder Grafiker ausschauen, machen sich Designbücher von allein überflüssig. VIER „Wie lange sie hier wohl schon saß und auf ihn wartete und tot war?“, überlegt der 60-jährige Schepp. Ein Mann wacht morgens auf und seine Geliebte ist über Nacht gestorben. Aus diesem Skandalon schuf Javier Marias in „Morgen in der Schlacht denk an mich“ einen magischen Romananfang. Dass es auch banaler geht, beweist jetzt Matthias Politycki. Schepp findet seine tote Gattin im Arbeitszimmer, über ihren unvollendeten Abschiedsbrief gebeugt. Ihre letzten Worte sind weniger rührend als erwartet, tatsächlich wird Schepp gründlich demontiert und sein promiskuitives, viel zu oft verletzendes Wesen infrage gestellt.
„Ungeliebte Frauen sind eifersüchtig.“ Das weiss Schepp, das weiss Politiycki. In solchen Augenblicken ist der Text beinahe weise – leider viel zu selten. „Voller Ehrfurcht atmete Schepp den Geruch des Todes.“ Was hier riecht – das ist der schleichende Tod eines stilsicheren Autors – wo bleibt der Sound? (Matthias Politycki: „Jenseitsnovelle“, Hoffmann und Campe, 130 Seiten, 15,95 Euro)