Im Juni 2011 ist die 12 Farben-Edition des Vereins „rhein wörtlich e.V.“ gestartet. Die ehemalige Tisch 7-Verlegerin Bettina Hesse gründete zusammen mit Christof Bultmann und anderen Interessierten den gemeinnützigen Verein, „um mit neuen Texten und Veranstaltungen frischen Wind in das Kölner und rheinische Literaturgeschehen zu bringen.“ Im Spätherbst 2015 wurde die Reihe mit Dorian Steinhoffs „Die dunkle Jahreszeit“ beendet. Das Besondere: Neben einem literarischen Text gibt es in jedem der Hefte eine Poetik; die AutorInnen schreiben darin über Ihr Schreiben. Blind habe ich vier Bände aus dem Stapel gegriffen. Alle weiteren Autoren gibt es hier auf der rhein wörtlich-Homepage.
EINS Mit „Miriam“ schreibt die 1968 geborene Kölnerin Ulrike Anna Bleier eine Geschichte über „Dichtung und Wahrheit“, indem sie zwei Betrüger aufeinandertreffen lässt. Der Held ist Housesitter einer edlen Finca auf Mallorca. Doch als er die spindeldürre Miriam mit ihren drei Hippiefreunden trifft lädt er sie gegen die Regeln ein. Den Job hatte er ohnehin nur angenommen, weil er am Ende mit den Wertsachen des Hausherrn abhauen wollte. Zu spät wird ihm klar, dass er selbst das Nachsehen haben wird, dass er einem perfiden Plan aufgesessen ist. Der „betrogene Betrüger“ ist ein uraltes Motiv in der Literatur. „Die Bezeichnung geht auf die so genannte Ringparabel in Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) Versdrama ‚Nathan der Weise’ (III, 7) zurück. Hier treten drei Söhne eines Mannes vor den Richter und behaupten, ein jeder habe vom Vater einen Ring mit besonderen Kräften geerbt, aber nur einer könne der echte sein.
Der weise Richter schlichtet den Streit, indem er eine salomonisch-pragmatische Entscheidung fällt: ‚Oh, so seid ihr alle drei/betrogene Betrüger!, eure Ringe/sind alle drei nicht echt.‘“ In dieser Tradition steht auch „Miriam“ und in der abschließenden Poetologie verteidigt Bleier die Lüge als literarisches Prinzip. Sie schreibt: „Ohne Lügen kann naturgemäß gar keine Geschichte erzählt werden.“ Sehr schlau gebaute Geschichte, mit einigen sprachlichen Klischees, die aber verblassen vor der Ambition dieses Unterfangens.
ZWEI „Ach, sagte sie, diese Würfelquallen seien nicht einmal das Schlimmste. Wovor sich die Leute wirklich fürchten würden, an dieser Küste, das wären die Salties, die Krokodile im Meer. Salzwasser-Krokodile. Die wären wirklich gefährlich. – Und was ist mit den Haien? – Die sind kein Problem. Die siehst du vorher noch, in der Regel. Früh genug.“ Kann eine Beschwichtigung beunruhigender klingen? Nika Bertram, studierte Anglistin und Informationswissenschaftlerin, lässt in „Ich sage blau“ ihre Heldin per Jet nach Australien reisen. Dort war sie bereits zu Studienzeiten. Nun kehrt sie als Ingenieurin zurück und während sie in der Business-Class bedient wird, erinnert sie sich einer Zeit der Angst – und wie diese Angst verschwand. Australien, das ist der verwirrende Kontinent, wo die Sonne von der anderen Seite scheint, wo 30 Zentimeter große Spinnen leben, wo man sich nachts vor Schlagen schützen muss und die Wellen die Höhe von Familienhäusern haben können.
Aber „in Bondi Beach fürchtet sich keiner vor einem Hai.“ – Diesen schlichten Satz, der leichthin den Spirit Australiens einfängt, schreibt Bertram in ihrer kommunikationswissenschaftlich inspirierten Poetik, wo eine weitere Frau auftaucht, die sich gegen die Angst gestellt hat: die Mathematikerin Ada Lovelace, eine der ersten Programmiererinnen (im 19. Jahrhundert!), Tochter von Lord Byron, dem großen Dichter und ebenso großen Maschinenstürmer, der einst gegen die neuen Webmaschinen agitierte. Ein Text der zunächst harmlos wirkt wie die ruhige See – unter der es aber vor Haien nur so wimmelt.
DREI „Hertie, Karstadt, Quelle, Arcandor, diese Namen erwecken keine Heimatgefühle mehr, die Szenarien, die man mittlerweile damit verbindet, sind ganz andere. Die Unsicherheit der Angestellten, während sie auf den Spruch des Insolvenzverwalters warten. Bereits entlassene Verkäuferinnen, die den Ausverkauf betreiben und sich dabei feilschender Kunden erwehren müssen, die Aussicht auf ein Leben in Hartz IV, sogar verarmte Milliardärinnen.“ Mit einem hervorragenden Stück Dokumentarliteratur besetzt Doris Konradi die Farbe (Lippenstift-)Rot. „Aufstand der Drogistinnen“ heißt ihr Text, die daran anschließende Poetik „Eine Kindheit im Kaufhaus – oder die Suche nach tragischen Figuren in der Warenwelt“. Die 1961 geborene Tochter eines früheren Kaufhausleiters hat bereits als Mädchen die Machtstrukturen dieser inzwischen untergegangenen Welt kennengelernt.
Sie beschreibt einen folgenreichen Acht-Stunden-Tag in einer kurz vor der Abwicklung stehenden Drogerieabteilung, lässt noch einmal die Gedanken- und Arbeitswelt einiger Frauen aufleben, die hier als traurig Abgespeiste inmitten des Luxus ausharren. Ein Flacon Soir de Lune kostet selbst in der Galeria Kaufhof stolze 165,59 Euro. Jedem dritten Arbeitnehmer soll gekündigt werden, doch schon jetzt reicht das Gehalt nicht einmal für einen anständigen Rougepinsel. Es wird beinahe zum Eklat kommen, doch wie häufig vollziehen sich die Dramen der schlecht Weggekommenen im Stillen. Ihre Namen vergehen in der Zeit wie der Duft eines Parfüms und es nicht hoch genug anzurechnen, mit welcher Feinsinnigkeit Doris Konradi hier aus einer weiblichen Angestelltenwelt berichtet, die man kennt seit Irmgard Keun 1932 „Das kunstseidene Mädchen“ veröffentlicht hat, einer Welt, die in Wirtschaftswunderzeiten beispielhaft stand für den Aufstieg einer ganzen Volkswirtschaft, und die nun darniederliegt, irgendwann komplett verschwunden sein wird, weil kein Kaufhaus dieser Welt gegen die Amazon-Lager ankommen kann.
VIER Bettina Hesse verschränkt – wie Nika Bertram – zwei Ebenen und eine Fremde in ihrer Geschichte mit dem bereits poetologisch klingenden Titel „Am Ende anfangen“. Der Text ist autobiographisch inspiriert und erzählt vom Wiedersehen einstiger Geliebter in Italien. Bettina Hesse war selbst elf Jahre lang als Lektorin an italienischen Universitäten angestellt. „Losgetreten wurde das Erzählen wohl durch die Freude und das Staunen bei der Wiederbegegnung mit einem Mann nach vielen Jahren“, schreibt sie in ihrer Poetik. „Folgendes war im Spiel: Aufregung, Frische, Erstaunen, Neugierde, Lachen, Zweifel am physikalischen Zeitbegriff, eine Menge Atemluft, sich begehrt fühlen, Unliebsames verdrängen, Vertrauen und Zartheit – alles in allem inspirierend.“ Durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 merkt die Heldin, dass sie Schutz braucht. Doch eben diese Geborgenheit vermisst sie bei ihrem Ehemann, als könnte er keine Festung gegen die monströse Bedrohung Al Quaidas errichten.
In einem frühen Liebhaber, einem italienischen Kunststudenten und Kulissenschieber am Theater, in der vermutlich auch verklärten Vergangenheit sucht sie Mitte der 2000er Jahre, wie so viele Menschen, nach einer verloren gegangenen Sicherheit. 30 Jahre nach dem ersten Treffen kehrt sie für einen Besuch nach Italien zurück. Es wird eine letzte Erinnerung an stürmische Liebe, an explizit geschildertem Sex – „Er hat sie verzaubert, er liebt sie, er fickt sie überall und überallhin. Er ist ihr Mann.“ – an junge Männer, die ihr einst hinterherpfiffen, an schrankenlose Nähe; und an die Farben jener, an die Farben der heutigen Zeit. „Am Ende anfangen“ ist ein Text, der aus seiner Bauanleitung kein Geheimnis macht, ein Text, der diese Anleitung mit der Poetik gleich mitliefert, einer Poetik, die allerdings literarisch überschrieben ist mit dem Hinweis gebenden Satz: „Jede Poetologie ist Lüge, es sei denn, sie wäre vor dem Text geschrieben.“
[…] Rezension, erschienen am 19. Dezember 2015 von Jan Drees, Lesen mit Links […]