Ist es so? Was in der deutschen Gegenwartsliteratur seit längerer Zeit eingeklagt wird, erfüllt das Theater. Es scheint jedenfalls so, als werden hier vor großem Publikum aktuelle Themen besetzt, neue Utopien entworfen und viel mehr Fragen gestellt der Art: Wie kann eine Gesellschaft nach 2015 aussehen? Was ist männlich, was weiblich? Wie verhalten wir uns zu den ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer, zur Piraterie an der Küste vor Somalia? Wie kann die vom kulturellen Bereich nahezu ausgeschlossene Unterschicht zurück ins Rampenlicht gebracht werden? Dazu gibt es an diesem Sonntag ab 22:05 Uhr eine Stunde „Zündfunk Generator“ in Bayern 2. (Das Beitragsbild zeigt Wolfram Lotz nach unserem Interview in Berlin)
Sie schreiben Songs, und sie schreiben Romane. Seit 15 Jahren werden deutsche Musiker von Verlagen gecastet. Ob „Das schöne Leben“ von Christiane Rösinger, „27“ von Kim Frank, „Ein kurzer Brief an September Novak“ von Markus Berges oder „Otis“ von Jochen Distelmeyer. Sven Regener, Sänger der Band Element of Crime. Regener hat mit seinem Roman „Herr Lehmann“ einst den Anfang gemacht. Das Buch, lange platziert in den deutschen Buchcharts, wurde mit Christian Ulmen in der Hauptrolle verfilmt. Der Autor Sven Regener ist inzwischen bekannter als seine Band Element of Crime, Dank des Eichborn-Verlags, der ihn als Schriftsteller groß gemacht hat.
Die Idee dahinter ist simpel: Wer Songtexte schreibt, der kann sich auch längere Geschichten ausdenken. Nebenbei profitieren die Verlage vom ungefähren Bekanntheitsgrad der Pop-Stars und -Sternchen. Dieser Transfer hat auch aus anderen Szenen funktioniert, mit TV-Comedyautoren wie Tommy Jaud oder Moritz Netenjakob. In den USA werden die Erfinder von Serien wie „True Detective“ und „The Wire“ im Buchmarkt hochgejazzt. Selbst das Porno-Business haben die Verlage versucht anzuzapfen. Schon 2003 trat etwa Gina Wild auf der Buchmesse in Frankfurt auf, um ihren offenherzigen Michaela-Schaffrath-Kalender vorzustellen. Zur Leipziger Frühjahrsmesse 2015 sich neben Dolly Buster auch die einstige RTL-„Dschungelcamp“-Siegerin Melanie Müller angemeldet. Eine Vollkatastrophe.
Inzwischen ist der Musikmarkt leergefegt. Neue Comedyautoren sind auch nicht in Sicht. Das Kabarett ist tot. Wenn ehemalige Sportstars schreiben, dann klingt das ungefähr so wie die Versuche der Fußball-Nationalmannschaft einen Musik-Hit aufzunehmen. Die deutschen Buchverlage fahnden jetzt nach einer neuen Szene. Dabei sind sie aufs Theater gestoßen. Das ist irgendwie naheliegend. Schließlich gehört das Drama neben der Prosa und der Lyrik zu den drei literarischen Kerngattungen. Den Anfang im Buch-Business dieser Tage machten die Schauspieler, wie der sehr erfolgreiche Joachim Meyerhoff, der in „Wann wird es endlich wieder so wie es nie war“ über den Sohn eines Psychiaters in einer Klinik berichtet.
Woher kommt das neue Interesse einiger (nicht aller) Verlage an den deutschen Theatermachern? – Interviewpartner und Stichwortgeber dieses Zündfunk Generators sind
- Christina Zintl, Dramaturgin des Berliner Theatertreffens
- Wolfram Lotz, Autor des Stücks „Die lächerliche Finsternis“
- Sibylle Berg, die mit ihrem Stück „Und jetzt: die Welt“ über Weiblichkeit und Whatsapp-Kommunikationen schreibt
- Jo Lendle, Hanser-Verleger, Schriftsteller, Theatergänger und Skeptiker
- Enno Stahl und Ingar Solty, Initiatoren der Tagung „Schriftsteller – Kapitalismus – Kritik“
- Jessica Glause, Regisseurin und „radikal jung“-Publikumspreisgewinnerin 2015
- Tobias Philippen von Theateragentur und -verlag „schaefersphilippen“ in Köln
- Florian Kessler, ZEIT-Feuilletonist und Hanser-Lektor
- Ferdinand Schmalz, Autor von „Dosenfleisch“ und „Am Beispiel der Butter“
- Joachim Meyerhoff, Schauspieler und Bestsellerautor
„Ich war letzten am Staatstheater in Mainz und da standen wir so für dem Haus, das auch sehr zentral gelegen ist und haben gedacht: Eigentlich ist es toll, dass die Gesellschaft nach allem sparen und so weiter zum Trotz sich das leistet, dass man da die Möglichkeit hat ein bisschen frei zu denken, aus dem Kapitalzyklus rauszutreten und Projekte zu machen.“ (Tobias Philippen/schaefersphilippen Köln)
Liegt es vielleicht auch daran, dass im deutschen Gegenwartstheater eben jene marginalisierten Themen vorkommen, die im literarischen Feld schmerzlich vermisst werden? Christina Zintl sagt: „Ganz stark sind Migrationsthemen, Arbeitswelten. Beim Stückemarkt haben wir den Schwerpunkt Flucht und Asyl im Theater gemacht. Wir haben uns der Kampagne ‚My right is your right‘ angeschlossen, die sich für eine andere und besser Asylgesetzgebung einsetzt. – Es gibt die Rufe, dass es eine Repolitisierung des Theaters gerade gibt.“ Die jungen Theatermacher denken im absoluten Jetzt – ob das nun ein Wolfram Lotz ist, der von Piraterie vor der Küste Somalias erzählt oder Ferdinand Schmalz, der es geschafft hat, mit seinem mehrfach ausgezeichneten Stück „Am Beispiel der Butter“ anderthalb Stunden Gesellschaftsanalyse abzuliefern, die begeistert. Bald ist Premiere seines neuen Stücks „Dosenfleisch“.
„Beim Dosenfleisch stellt sich ja schon die Frage, wie sehr sind die Konservierungsmittel rauszuschmecken. Aber ich glaube, es hat auch eine tiefere Bedeutung. Weil natürlich Essen und Sprache für mich sehr nah miteinander zusammenhängen. Es sind die selben Apparate, die selben Organe, über die wir unsere Nahrung aufnehmen. Es sind auch die Apparate, über die wir unsere Sprache bilden. Und da kann man sich schon mal fragen: Warum sprechen wir überhaupt da oben aus unserem Mund raus? Warum sprechen wir nicht aus dem Arsch?“ (Ferdinand Schmalz)
[…] schreibt die New Republic. Sie soll auch, mal wieder, politischer werden, so wie Theater. […]