Ein paar Gene trennen den Depp vom Nobelpreisträger. Oder vielleicht doch noch viel mehr? Der 27-jährige Bestsellerautor Benedict Wells erzählt in seinem dritten Roman „Fast genial“ von einem Trailerpark-Typ, der – wie Eminem – raus aus dem Elend will. Allerdings ohne Rap.
In schwierigen Situationen fragt sichFrancis Dean: „Was hätte Eminem getan?“ Er muss sich das häufiger fragen, denn der 18-jährige Trailerpark-Spross steckt immer wieder in schwierigen Situationen. Seine alleinerziehende Mutter ist psychotisch. Der Versagervater verschollen. „Das Einzige, woran er dachte, war ein suizidgefährdetes Mädchen in der Klinik seiner Mutter.“ Francis ist unsterblich verknallt, ausgerechnet in die selbstzerstörerische Anne-May. Mit ihr und Kumpel Grover wird er wenig später losziehen, um herauszufinden, ob Vater tatsächlich, wie im Wahn von Mutter behauptet, ein genialer Wissenschaftler ist – und eben kein Versager.
Francis‘ Vater soll einst an einem umstrittenen Samenspende-Projekt teilgenommen haben. Ziel dieses Versuchs: Die dauerhafte Reproduktion hochintelligenter Erdenbürger.Francis sieht Licht am Ende des Tunnels: „Bis vor Kurzem war seine Zukunft noch wie ein vorgedrucktes Blatt gewesen, auf dem fett und schwarz ‚Versager‘, ‚Schulabbrecher‘ und ‚Schichtarbeiter‘ gestanden hatte. Doch nun hatte jemand mit Farbe die Worte ‚Genie‘, ‚künstliche Befruchtung‘ und ‚Westküste‘ darübergeschrieben.“ Dort soll der Vater leben: an der Westküste, tausende Kilometer entfernt. Der Beginn einer Reise…
„Fast genial“ wirkt wie ein Kommentar zu etlichen Debatten der vergangenen zwölf Monate. Wie Intelligenz angeblich produziert wird, steht im Mittelpunkt von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“-Bestseller, der sich wegen nationalsozialistisch gefärbten Gedankenguts längst disqualifizierte. Nach Sarrazin wird Intelligenz biologisch und sozial vererbt. Intelligente Menschen bekommen nach seiner Lesart tendentiell intelligenteren Nachwuchs, der wiederum in den Genuss besserer Bildung gelangen, weil daheim nicht nur BILD, BAMS und Glotze, sondern auch Böll, Brecht und Grass das Sagen haben.
Francis Dean wird im Laufe des Romans lernen, dass Intelligenz nicht automatisch vererbbar und dass Glück oft wichtiger als Bildung und harte Arbeit ist. Er hebelt also Sarrazins Vorurteile aus und fügt dem Leben eine entscheidende Komponente hinzu: Das Spiel. Genau hier trennen sich hyperernstes Sachbuch (Sarrazin) und sensible Belletristik (Wells). Dass der Mensch nur da Mensch sei, „wo er spielt“ erkannte bereit Dichter Friedrich Schiller in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von 1793.
„Fast genial“ folgt diesem humanistischen Erziehungsbild und setzt der kapitalistisch-erbarmungslosen Sprache des Herrenmensch-Träumers Thilo Sarrazin eine ereignisreiche, lebendige, durchaus romantische Reise entgegen. Im gleichen Streich wird mit erstaunlicher Leichtigkeit die aktuelle, sehr heikle Samenspenden-Frage aufgefangen (2011 wurde ein deutscher Spender von zwei Lesben auf Kindesunterhalt verklagt). Dazu kommen: Familienprobleme, die weit weg vom BRAVO-Fotoroman oder Berlin-Mitte-Kitsch angesiedelt sind. Es gibt erhebende Popstar-Phanatsien und die ewige Suche nach dem Ich im Leben. Eine Menge Stoff, wie immer bei Benedict Wells.
Außerdem geht es um: Entjungferungen, Wahnsinn, Psychiatrie, Krankenhäuser als Korrekturstädten und „Frankenstein“-Labors der Moderne, um die Bedeutung von Arcade Fire für Menschen mit Liebeskummer und um die Unsicherheit des „American Dreams“, um die in ihn eingebaute „war machines“. Der amerikanische Traum kann einen Trailerpark-Jungen bekanntlich zum Millionär beflügeln. „Fast genial“ erinnert, dass gleichzeitig eine Menge Glück im Spiel sein muss: Nur Reiche können es sich erlauben, etliche Roulette-Partien hintereinander zu verlieren. Für Jungs aus dem Trailerpark heißt es dagegen: Hop oder Top. Der 27-jährige Schriftsteller Benedict Wells hatte Glück. Seine Leser aber auch.
Benedict Wells: „Fast genial“, Diogenes, 336 Seiten, 19,90 Euro
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