„Früh am Morgen, gleich nach dem Aufwachen, wurde ihr klar: Das Leben steckt voller Überraschungen. Ihr Spiegelbild teilte ihr mit, dass ihr über Nacht ein Buch aus dem Kopf gewachsen war.“ Als Mensch ist Tino abends ins Bett gegangen. Als langsam wachsende Bibliothek wacht sie wenige Stunden später auf. Dass die Gesellschaft konfus auf Verwandlungen reagiert, weiß jeder, der den Kinofilm „Die Fliege“ gesehen, oder mal in Robert Louis Stevensons „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ reingeschaut hat.
Dabei ist die Short Story „Eine mit Buch und ihre erlesene Leserschaft“ von Maka Mikeladze nicht einmal das Wunderlichste an diesem großartigen Sammelband „Techno der Jaguare“. Zwei Jahre suchte die Frankfurter Herausgeberin Manana Tandaschwili die aufregendsten Erzählerinnen Georgiens, was bestimmt nicht einfach gewesen ist, weil man ehrlicherweise sagen muss: Kennt irgendwer überhaupt eine Autorin oder einen Autor aus diesem fernen Land am Schwarzen Meer, das etwas vergessen zwischen Russland, der Türkei und Armenien liegt?
Georgien hat eine große, zehntausend Jahre alte Vergangenheit, und eine weniger große, instabile Gegenwart. Erst krachte die Sowjetunion zusammen. Dann brachen in direkter Nachbarschaft Bürgerkriege aus. In der Landessprache wird Georgien საქართველო geschrieben, was mindestens so schmuckvoll daherkommt wie das Wappen, das Löwen, Krone und den Heiligen Georg zeigt, der mit seinem silbernen Speer einen silbernen Drachen bezwingt. Das sind „hard facts“ aus einer anderen Welt, die sich nur langsam an unsere Popkultur, an den westlichen Lifestyle, an emanzipierte Rollenvorstellungen wagt. Die sieben Autorinnen stehen mit ihrer aufregenden Literatur für diesen Aufbruch ins 21. Jahrhundert.
„Georgien mit seiner traditionell eher patriarchalischen Gesellschaft durchläuft zurzeit einen bedeutenden Wandel. Die Frauen, die zuvor eher im Hintergrund agierten und denen bestimmte soziale Rollen zugeschrieben wurden, gewinnen an Bedeutung“, sagt die Herausgeberin. Während sich männliche Autoren an Kriegserfahrungen abarbeiten, gehen die Autorinnen raus in die moderne Gegenwart. Bei „Techno der Jaguare“ sind unter anderem dabei: Anna Kordzai-Samadaschwili, die Übersetzerin von Rainald Goetz („Rave“), dann Shootingstar Nino Haratischwili und die sehr wilde Nestan (Nene) Kwinikadze, Schauspielerin, Fernsehproduzentin, Chefredakteurin von gleich zwei georgisch-englischen Modezeitschriften.
Es geht um Christina Aguilera, um eine Clique von Möchtegern-Transvestiten, und um wilde Asiaten, die mit Piercings übersäten Mädchen den Kopf verdrehen. Der blinde Bildhauer Alexander überredet die junge Journalistin Lisa, für ihn Modell zu stehen, was nichts anderes bedeutet, als dass er sie abtasten möchte: „Sie durfte sich nicht bewegen. Alexander arbeitete hinter ihr. Den großen Tonklumpen, dem er nach und nach immer mehr Form verlieh, konnte Lisa nicht sehen. Jedes Mal, bevor er sie anfasste, tauchte er seine Hände in Wasser.“
In Tamta Melaschwilis Thriller „Killer‘s Job“ stellt der Berufsmörder kaltschnäuzig fest, dass man nur zwischen zwei Möglichkeiten wählen kann. „flachlegen, oder flachgelegt werden.“ – Das ist hart. Das ist archaisch. Das klingt nach Krieg. Damit haben wir in Deutschland, abgesehen von ganz finsteren Gegenden glücklicherweise nichts zu tun. In den georgischen Geschichten steht die Zivilisation noch Aug‘ in Auge mit der Barbarei. Im „Techno der Jaguare“ gibt es viele Strategien, um diese Gegensätze auszuhalten, das Wilde zu zähmen. Die bemitleidenswerte Tino mit ihrer Bücherstirn wird einen ganz und gar phantastischen Weg zurück finden.
Wer aber „Techno der Jaguare“ gelesen hat, wird ein Stückweit in Georgien bleiben, und ab sofort neurig hinschauen, wenn weitere Autorinnen und Autoren mit der Endung „-schwili“ irgendwo auftauchen (was übersetzt übrigens Kind heisst – aber das ist ein anderes Thema). Mehr Georgien gibt es hier: Der 85-jährige, deutsch-georgische Schriftsteller Giwi Margwelaschwili hörte, als er in berlin lebte, Radio Eins und ist der vermutlich älteste Michael Jackson-Fan der Welt. Manchmal schreibt er über Graffiti, wie im wirklich sehr schönen Buch „Der verwunderte Mauerzeitungsleser“. Noch mehr georgische Literatur, allerdings ausschließlich von Männern, hat Manana Tandaschwili 2010 in einem Sammelband veröffentlicht. Den Debütroman „Abzählen“ von Tamta Melaschwili ist im Unionsverlag erschienen. Nicht ganz so weit östlich wie Georgien liegt dagegen Prag, wo Franz Kafka seine Erzählung „Die Verwandlung“ geschrieben hat. Da wachsen zwar keine Bücher aus der Stirn, aber: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“
Manana Tandaschwili, Jost Gippert (Hg): „Techno der Jaguare: Neue Erzählerinnen auf Georgien“, FVA, 248 Seiten, 19,90 Euro