Kinder, die krank machen – das gab es vor wenigen Monaten erst in Clemens J. Setz‘ großartigem SciFi-Thriller „Indigo“. Auf weniger experimentelle, aber ebenso gänsehautartige Weise funktioniert Jane Rogers‘ „Das Testament der Jessie Lamb“, in dem eine 16-jährige zur Märtyrerin wird.
Das alles wird fehlen, wenn es keine Kinder mehr gibt: Windeln, Babykleider, Kinderwagen, „und wenn wir alt sind, werden alle alt sein. Niemand wird mehr arbeiten.“ Es wird keine Geschäfte, keine Müllmänner, keine Busse mehr geben. „Nichts. Alles wird knirschend zum Stehen kommen.“ Die 16-jährige Jessie lebt in einer und nahen Zukunft, in der den Menschen eben dieses fürchterliche Schicksal droht. Aus vermutlich terroristischen Gründen ist eine rätselhafte Immunkrankheit (eine Mischung aus AIDS und Creutzfeldt-Jakob) in die Welt getreten, die jede schwangere Frau befällt. Denn: schwangere Frauen sind besonders anfällig für Infektionen. „Die vorübergehende Schwächung des Immunsystems, das es ihr erlaubt, schwanger zu bleiben, macht sie anscheinend empfänglich für das Muttertod-Syndrom. Ab dieser Stelle setzt MTS an. Die Lücke ist winzig klein – wer auch immer das Virus entwickelt hat, ist entweder ein Genie oder hat Riesendusel gehabt.“ So erklärt es Jessies Vater, der als Wissenschaftler an einem Gegenmittel für den Virus forscht – bislang ohne Erfolg.
Die Welt steht versucht nun auf unterschiedliche Weise, die Apokalypse abzuwenden – oder wenigstens einen perversen Vorteil aus der schwachen Position der Frauen zu schlagen. Es gibt religiöse Eiferer, die in Gebet und Enthaltsamkeit den Dämon austreiben wollen. Es gibt Männer, die daheim zwar keinen Sex mehr haben, nun aber wahllos fremde Frauen überfallen und vergewaltigen. Ihnen entgegen treten die Feministinnen von „FLAME“. – Ihrer Ansicht nach ist das MTS eine Folge mehrtausendjähriger Unterdrückung. Männer fürchteten sich vor der weiblichen Sexualität, und neideten der Mutter ihre Beziehung zum Ungeborenen. „Deshalb wollten sie Jungfrauen heiraten und die Unterwürfigkeit der Frauen bewahren, sie könnten sich nie sicher sein, dass das Kind denn auch von ihnen wäre.“
Aus gleichem Grund hätten männliche Wissenschaftler auch auf besonders perfide Weise auf MTS reagiert. Neuerdings werden nämlich junge Mädchen rekrutiert, die sich künstlich befruchten und dann in ein Koma versetzen lassen. Dort entwickelt sich MTS langsamer. Das Baby überlebt und die Frau, die ansonsten viel eher sterben würde, trägt als hirntote „Schlafende Schöne“ ihr Baby aus – bevor die Geräte nach dem Kaiserschnitt abgestellt werden. Frauen sterben, wie früher, weil sie Leben spenden. – Zugleich wird versucht, menschliche Kinder in genmanipulierten Schafen heranzuzüchten, was für FLAME nichts anderes ist als die absolute Kontrolle herrschsüchtiger Männer über den geheimnisvollen Zeugungs- und Entbindungsvorgang. In dieser Welt, in der die Zivilisation vor dem Ende steht, beschließt die 16-jährige Jessie Lamb, Tochter eines der besagten Wissenschaftler, ihren Körper ins Koma setzen zu lassen, um als Märtyrerin den Fortbestand des Menschheit sicherzustellen.
Jane Rogers‘ Roman ist ein furchterregendes Gedankenexperiment, das einerseits an Dystopien wie „Die Insel“ erinnert, dann aber auch nah an die medizinische Realität angeknüpft ist, von Tierversuchen erzählt, die auf ähnlich Weise längst stattfinden, von Macht und Ohnmacht. „Das Testament der Jessie Lamb“ wurde bereits mit Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ verglichen und die fiktive Frauenrechtsorganisation FLAME aus dem Buch hat nicht nur sprachliche Ähnlichkeiten mit FEMEN. Deshalb ist „Das Testament der Jessie Lamb“ mehr als eine Gen-Dystopie, sondern auch ein feministischer Thriller über das Verhältnis von Frauen, Müttern, Männern und dem neuen Diskurs über Weiblichkeit. Tatsächlich nimmt ein Kapitel die gegenwärtige Debatte um Brustamputationen und Angelina Jolie vorweg. Ein Page-Turner mit Hirn.
Jane Rogers. „Das Testament der Jessie Lamb“, übersetzt von Norbert Stöbe, Heyne, 384 Seiten, 14,99 Euro
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