Dieser Schelmenroman hat die Jury überzeugt: Auf 800 Seiten bietet Robert-Gernhardt-Preisträger Frank Witzel die amüsanteste Terrorstory aller Zeiten geschrieben – und dafür heute verdient den Deutschen Buchpreis des Jahres 2015 gewonnen. (Die Beitragsbilder kommen alle von der privaten Homepage des Autors und seinem Schwarzeschachtel-Blog)
Von jeher gibt es in der deutschen Literatur die Geizhälse und die Verschwender. Die einen liefern in kurzer Zeit einen schmalen Roman nach dem anderen ab. Das sind die Geizhälse. Die anderen schreiben jahrelang an bombastischen Klötzen, obwohl ihr Stoff ausreicht, um mindestens drei einzelne Veröffentlichungen auf den Markt zu werfen – und dementsprechend auch dreimal zu kassieren. Das sind die Verschwender. Zur letztgenannten Gattung gehört Frank Witzel, 1955 in Wiesbaden geboren, der mit seinem Terror-Psycho-Adoleszenz-Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ einen dieser Klötze hingelegt hat. Er bietet 800 Seiten im Überformat, 1,8 Millionen Zeichen Text. In das Buch passt die kleine, seit mehreren Monaten auf der Bestsellerliste stehende Robert-Seethaler- Geschichte „Ein ganzes Leben“ (hier im Blog) kurzerhand neun Mal.
„Ach, eigentlich wollte ich auch drei Bücher schreiben“, sagt Frank Witzel beim Treffen in Leipzig. „Es war nur so, dass mir in jedem Text etwas gefehlt hat.“ So entstand dieser Roman in achtjähriger Dauerarbeit, mit sorgsam eingeteiltem Geld. Beim Fußball heißt es: „Alles für den Club.“ Bei Frank Witzel: „Alles für den Text.“ Für einen Auszug aus dem Roman bekam er bereits 2012 den Robert-Gernhardt-Preis verliehen. Nun ist sie fertig, die gewaltige Geschichte eines 13-jährigen Erzählers, der fassungslos mit ansehen muss, wie seine erst kürzlich gegründete Protest-Jugend-Clique einen Konkurrenzclub bekommt: die RAF.
„Am Abend um zwanzig nach acht im Schlafanzug in der Tür zum Fernsehzimmer beim Gute-Nacht-Sagen versuche ich, einen kurzen Blick auf den Fernseher zu erwischen, sehe verwackelte Aufnahmen von rennenden Männern auf nassen Straßen und bekomme wieder Angst. Nein, das waren nicht wir. Aber sie scheinen die Suche noch nicht aufgegeben zu haben. Ein Phantombild wird gezeigt, mit Bleistift gezeichnet, aber zum Glück sind die Haare bei dem viel länger, weil ich erst letzte Woche wieder zum Frisör musste und sie mir zur Zeit nicht mal mehr über die Ohren gehen. Aber der vorgeschobene Unterkiefer, das könnte schon ich sein. Und das nächste Bild. Eine Frau diesmal. Nein, auch nicht Claudia. Claudia sieht ganz anders aus, da stimmt aber auch gar nichts, sie hat ganz andere Augen, und die Lippen sind auch nicht so schmal.“
Nach einer Szene wie dieser würde ein gewöhnlicher Teenager ins Grübeln kommen und hinnehmen, dass er vermutlich deshalb nicht wie Andreas Baader aussieht, weil er null mit den Kaufhausbränden und der Studentenbewegung zu schaffen hat. Aber Frank Witzels Teenager ist manisch-depressiv. Er steigert sich mehr und mehr in seinen Wahn – bis er, als Erwachsener, in der Psychiatrie landet. Die Baader-Meinhof-Gruppe ist real – aber dass sie nichts mit der RAF des Teenagers zu tun hat, will er nicht glauben: „Ich ziehe das DIN-A4-Heft raus, das ich hinter dem Schrank versteckt habe und in das ich alles schreibe, was mit der Roten Armee Fraktion zu tun hat.
Da steht zum Beispiel drin, wer alles bei uns Mitglied ist und wann wir uns treffen und wer welche Singles mitgebracht hat und auch unser Wahrzeichen, obwohl das noch nicht ganz fertig ist. Erst habe ich versucht, es so ähnlich zu machen wie das Zeichen vom Turnverein. Der Turnverein Biebrich kürzt sich TVB ab, das sind auch drei Buchstaben.“ Witzels Teenager ist einer dieser altklugen Knaben, die mehr von der Welt zu verstehen glauben, als sie bislang haben sehen können. Mit gewolltem Ernst und für den Leser dadurch umso größerer Komik räsoniert er über Naziterror, Fix und Foxi, über die demagogische Schnittführung von BBC 2, France 2 und ZDF. Nebenbei schmiedet er Pläne für eine Übersiedlung in die DDR.
„Claudia sagt, dass man da drüben leichter an Waffen kommt, weil man schon mit vierzehn jeden Mittag nach der Schule zur Armee muss.“ Auf derartige Ideen kommt man als Heranwachsender, wenn das eigene Umfeld langweilt. Witzel kennt das. „Ich bin in Biebrich, einem Vorort von Wiesbaden, aufgewachsen“, sagt er, „mit katholischer Gemeinde und
Fronleichnamsprozession. Vor der Schule ging es zur Frühmesse. Als Teenager setzt man sich dann eben auch die erfundene Welt aus dem zusammen, was man in seiner Umgebung vorfindet.“ Deshalb plant diese Teenie-RAF auch keinen Bankraub mit geladenen MP 5s von Heckler & Koch. Stattdessen wird überlegt, wenigstens den Kiosk zu überfallen, mit knallgrünen Wasserpistolen und mit einer Vorrichtung, die in Yps-Gimmick-Art um die Ecke schießen kann.
Der permanent zwischen Realität und Wahn wechselnde Roman ist aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Er springt zwischen der Kindheit des Jungen und seinem Psychiatrieaufenthalt als Erwachsener. Er stellt unterschiedliche Biografien des Jungen vor und montiert vermeintliche Dokumente zu einem Erinnerungstableau, auf dem sogar Platz ist für absurde Kinderreime: „Der Baader kam gefahren / mit einem Lkw / Er wollt die Meinhof fan- gen / denn die war eine Fee.“ Auf 800 Seiten wird die komplette Welt abgebildet, aber nicht eins zu eins, sondern als buntere, fettere Alternative. Diese vielzähligen Dokumente, Zuschreibungen und kindlichen Falschinterpretationen der Realität kann der Erzähler später als Erwachsener, eingewiesen in eine Anstalt, nicht einmal ansatzweise auseinanderhalten:
„Da diese Störung, wenn auch von außen nicht erkennbar, dennoch in mir existiert, war und bin ich gezwungen, mir selbst das nötige Wissen auf dem Gebiet der Psychologie, Psychiatrie, Psychoanalyse, Geschichte der Nervenkrankheiten und ihrer Behandlung, Geburt des Gefängnisses, Geburt der Wegschließapparate, Geburt der Roten Armee Fraktion, Geburt der Konzentrationslager, Geburt des Rohen und des Gekochten, Geburt von mir selbst, Beschreibung dieser Geburt, Beschreibung der Zangen, die bei dieser Geburt Einsatz fanden, Beschreibung der Saugglocken, die keinen Einsatz fanden, Historie der Werkzeuge generell, Historie des Zeigens der Werkzeuge als Androhung der Geburt und Historie der schließlich und endlichen Anwendung dieser Werkzeuge anzueignen.“
Niemand erinnert sich en détail an seine Kindheit. Es gibt immer Widersprüche. Die führen selten zur Psychose. Es ist aber immer interessant, in den Urgrund der eigenen Geschichte hinabzusteigen und aus losen Ereignissen eine konsistente Erzählung zu basteln. Genauso bruchlos gestaltet sich auch der komplette RAF-Diskurs, der vom Baader-Meinhof-Komplex Stefan Austs bis zum gleichnamigen Kinofilm von Bernd Eichinger die immer gleichen Analogien herstellt. Die RAF-Erzählung ist erstarrt und wird erst durch Witzels Roman neu ausgewürfelt. „1969 war ich, wie mein Held, auch 13 1⁄2“, sagt der Autor, „und ich wollte mich dieser Zeit kurz vor der Pubertät vergewissern, in der man ahnt, was kommen wird, aber kein Wissen hat. Es gibt eine Sehnsucht nach Liebe. Es gibt eine Vorstellung von Sexualität. Aber das ist eingepresst in Vorstellungswelten. Um mich denen anzunähern, habe ich eine Welt erfunden, die mir das spekulative Denken ermöglicht.“
Es gibt im Buch etliche Gegenentwürfe, darunter die Kirche und als damals typischen Rückzugsort von Jugendlichen den Pop. Im angehängten Index steht „Altar“ zwei Zeilen über „Amon Düül“, der „Beat Club“ neben dem „Beichtspiegel“. Es gibt das „Matchboxauto“, „Tangerine Dream“ und das „Werkbuch für Jungen“. 13 1⁄2, das bedeutete 1969, zwischen Lego, Landser- heften und Lord Extra zu stehen. Man ist Kind, Bald-Erwachsener, Lernender in der Schule, Anführer in der Jugendgang. „‚Uhrenvergleich‘, sagt Kamerad Müller. ‚Ich habe keine Uhr, weil ich noch nicht zur Kommunion gegangen bin‘, sage ich.“ Hier fabuliert einer, der über Jahrzehnte hinweg gelernt hat, literarisch zu schreiben, Pointen zu setzen, Dialoge auszufeilen.
Witzels Debüt-Gedichtband „Stille Tage in Cliché“ erschien 1978. Seitdem schlägt sich der Autor als Künstler durch, zeichnet, tritt als Jazz-Avantgarde-Musiker auf. Hatte er nie die Sehnsucht nach einem bürgerlichen Leben? Witzel schüttelt den Kopf und sagt dann absolut selbstsicher: „Nein.“ Mit dieser Selbstsicherheit ist auch der Roman konstruiert, der den RAF-Diskurs lustvoll um eine alternative Geschichtsschreibung erweitert. Das Buch zeigt deutlich: Die erfundene Geschichte ist nicht weniger Mythos als die jahrzehntelang bekannte RAF-Erinnerung, deren Erzählungen längst schematisiert sind. Auf den Schah-Besuch 1967 folgt der Mord an Benno Ohnesorg, folgen 1968 die Kaufhausbrände, folgt ab 1970 die erste Phase der RAF und so weiter. Anders sieht die Erzählung bei Witzel deshalb aus, weil sein Teenager von Anfang an die Berichte über die Baader-Meinhof-Gruppe als etwas Fiktives auffasst, als Storytelling. Daraus entsteht die Komik des Buchs. Während in der gängigen RAF-Geschichtsschreibung jedes Moment gesichert dasteht, sind für den Jungen alle Nachrichten bestenfalls halbwahr, da er sie permanent mit seinem ganz privaten Leben kurzschließt und den Terror auf eine kindliche Lebenswelt herunterbricht. Die RAF und ihr politischer Furor scheinen hier vor allem eines zu sein: absurd.
[…] des Deutschlandfunks habe ich binnen einer Stunde die Sendung komplett umgeschmissen, um mit Frank Witzel und Martin Willems Erinnerungen auszutauschen. Kennengelernt habe ich Wolfgang Welt aber durch […]