Auf der Seite Pop-Zeitschrift gibt es inzwischen Konsumrezensionen, Artikelrevuen, Fachaufsätze zu Popthemen wie die „Punk-Rezeption in der BRD 1976/77 und ihre teilweise Auflösung 1979“ und als Flaggschiff das halbjährlich erscheinende, von Thomas Hecken, Moritz Baßler u.a. herausgegebene Magazin „Pop Kultur und Kritik“, für das die gesammelte popwissenschaftliche Garde schreibt: Wolfgang Ullrich, Christoph Jacke, Dirk Matejovski, Markus S. Kleiner, Eckhard Schumacher (hier geht es zum Autorenverzeichnis). Im aktuellen Heft geht es unter anderem um Likes, den Netzwerkbürger als Kunstpublikum, Popmusikcharts und japanische Animes in China.
Haben wir alle gewusst, dass sich der Charakter und Stellenwert von Vernissagen durch Social Network Sites wie Facebook verändert hat? „Es wird mehr und mehr zur Usance, vorab bekanntzugegen, wenn man eine Ausstellungseröffnung besuchen will. Auf Seiten von Galerien wie Eigen + Art in Leipzig/Berlin, Feinkunst Krüger in Hamburg oder Kamel Mennour in Paris kann man sich eintragen und zugleich sehen, wer noch zu einer Vernissage kommen will, ja ob sich vielleicht Promis wie Helene Hegemann, Maxim Biller oder Klaus von Bruch angemeldet haben. Genauso kann man absagen oder angeben, noch nicht zu wissen, ob man es an dem Abend schafft, vorbeizuschauen. Mit anderen Worten: Wer sich überlegt, ob ein Besuch lohnen könnte, schaut zuerst einmal, wer kommt; oder fragt unter den Freunden, ob das ein passender Treffpunkt sein könnte. „Damit unterscheidet sich ein Vernissage-Besuch nicht mehr vom Besuch eines Clubs oder einer Disco (…) das Berghain und die Galerie König stehen auf einmal in direkter Konkurrenz“, schreibt Wolfgang Ullrich in seinem aktuellen Kunstbeitrag „Netzwerkbürger als Kunstpublikum“ und fügt der Performanzforschung eine neue Idee hinzu.
In solchen Augenblicken ist das „POP Kultur + Kritik-Magazin“ großartig, wenn es dazu anregt, aus Gegenwartsbeobachtungen eine gesamtgesellschaftliche Veränderung abzulesen. Denn das Berghain und die Galerie König stehen auch in Konkurrenz zu Theateraufführungen, Flash Mobs, Livetweets vom Tahirplatz, aber nicht mehr zu Fernsehen, Kinoeinlasszeiten, Hitparaden im Radio und der erst Spätabend gegebenen Möglichkeit, ein kostengünstiges Ferngespräch zu führen, auf Eilpost zu warten et cetera. Man ist jetzt aus anderen Gründen an einem Ort als noch vor zehn, fünfzehn Jahren, vor Festplattenrecordern, Mediatheken, movie2k.tl und dem itunes-Store, Mobilflatrates, Spotify und Push-Mailfunktionen. Das Verhältnis von Präsenz und Medium hat sich gedreht, es gibt neue Relais, Schaltstellen, Chatrooms, Versicherungsanstalten bildungsbürgerlichen Habitus. Man geht ins Kino, um Opernaufführungen der New Yorker Metropolitan Opera zu verfolgen, wartet aber auf den Film, bis er online fürs ipad verfügbar ist.
Thomas Hecken spürt dem Bedeutungsverlust der Popmusik- und dem Bedeutungszuwachs der Buchcharts nach (übrigens eines der großen Ideen von 1LIVE, die Bestsellerlisten schon früh „Charts“ zu nennen). Jonathan Lethems Aufsatz „Einstürzende Distanz – Möchtegerns Liebeslied oder Der Autor als Fan“ beginnt dem schönen Satz: „Wenn ich derzeit tanze, gehe ich nicht mehr so tief in die Knie wie früher.“ Ling Yang, Assistant Professor of Chinese an der Xiamen University beschreibt, in welcher Weise „China, das einst als dominante Kulturmacht Ostasiens die traditionelle japanische und südkoreanische Kultur beeinflusste“ derzeit auf dem „Gebiet Popkultureller Produktion“ hinter den beiden Nachbarn zurückfällt.
Zu einigen dann genannten Kuriositäten gehören die „Boys’ Love Mangas“ (Carlsen hat längst etliche dieser homoerotischen Heftchen im Angebot), gelesen von weiblichen Fans, die „in China scherzhaft ‚fujoshi‘ genannt, was wörtlich ‚schlechte Frauen‘ heißt.“ Diese Konsumentinnen fühlen sich von BL angezogen, „weil sie der Rolle der Frau als passives Sexobjekt in der traditionellen, männerdominierten Literatur müde sind. Indem sie BL schreiben und lesen, können Frauen den männlichen Körper und männliche Sexualität frei, ohne Schuld oder Angst erkunden.“ Auf der seit 2003 existierenden, größten Online-Verlagsseite für Frauenliteratur in China (Jinjiang Literature City) „läuft schätzungsweise ein Drittel der 650.000 dort publizierten Titel unter der Kategorie BL.“
Die aktuelle Popausgabe ist randvoll mit neuen Blicken auf und Neuinterpretationen der Gegenwart, von der verloren gegangenen Autonomie und neu organisiertem „Workflow“ der KreativarbeiterInnen durch Cloud-Lösungen von Adobe über das Verhältnis des anatomischen Theaters der Aufklärung zum Performance-Schnitt (Rainald Goetz) bis hin zu aktuellen Strategien der Wissenschaftspopularisierung in Serien wie The Big Bang Theory und eher kruden Formaten wie den Science Slams (nicht zu vergessen: der im Dezember begeistert aufgenommenem Website lol my thesis). Dem gegenüber Ernüchterung, wenn Lars Koch konstatiert: „Mehr als ein Jahrzehnt nach 9/11 ist die US-amerikanische Kultur endgültig in der Wüste des Realen aufgewacht. Der Vorspann von ‚Homeland‘ zeigt dies bereits in der ersten Einstellung der ‚opening credits‘, wie eine Terroransprache George W. Bushs mit dem Konterfei eines schlafenden Kindes und dem Serientitel kombiniert wird.“ Pop als Beruhigungsmaschine. Wer hätte das vor 46 Jahren, also während der 1968er Hippie-Revolution gedacht?
Pop Kultur & Kritik: Heft 3, transcript, 178 Seiten, 16,80 Euro