„Mein Vater schlug drauflos, denn schließlich steht in der Bibel: Wer seinen Sohn liebt, der kasteit ihn. Aber meine Mutter hat mich niemals geschlagen.“ Diese beiden Sätze stehen beispielhaft für das Leben zwischen Familientyrannei und calvinistischer Brutalität die Bestsellerautor Maarten ’t Hart in seiner autobiographischen Familiengeschichte „Magdalena“ beschreibt.
Der 70-jährige ist mit seinen allein hierzulande über 2 Millionen verkauften Büchern vor allem bekannt als ein humorvoller, als ein besonnener Erzähler. In unseren Breiten gilt er als Schriftsteller, der überwiegend von Frauen gelesen wird. Im Online-Buchsalon der Frauenzeitschrift „Brigitte“ werden seine Sachen gern diskutiert und die herzergießenden Eindrücke sind angereichert durch Formulierungen wie „wundervoll bildhaft“, „eignet sich hervorragend als Lektüre für einen verregneten Sonntag“ oder „besonders für eine vergnügliche Lesepause nach einem anstrengenden Arbeitstag“.
Spätestens mit „Magdalena“ muss das Bild dieses in den Niederlanden vor allem für seinen streitbaren Intellekt bewunderten und oft auch angefeindeten Autor revidiert werden. „Magdalena“ war die 2012 verstorbene Mutter von ’t Hart. Seine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester Leny erklärt auf Nachfragen, dass ihr Bruder über ein familiäres und gesellschaftliches Tabu geschrieben hat, „nämlich über Menschen mit einer Geisteskrankheit.“
Das mag in Deutschland ungewohnt klingen, weil seit einiger Zeit permanent Erfahrungsberichte von Depressiven erscheinen (aktuell „Morgen ist leider auch noch ein Tag“ von Tobi Katze bei Rowohlt). Aber ’t Hart kommt aus einem anderen Land und vor allem aus einer anderen Zeit, in der die Thematisierung psychologischer Abweichungen keinesfalls zur allgemeinen Familienräson gehörte.
An welcher Krankheit litt Magdalena, die Mutter? Eine Diagnose gibt der promovierte Biologe ’t Hart nicht. Er beschreibt. Als der hochbegabte Sohn unbedingt das Lyzeum besuchen will, sperrt sich die Mutter vehement. „Meine sechs Brüder sind auch alle nach der sechsten Klasse arbeiten gegangen, was ist daran falsch?“ Sie hat Angst, ihr Kind an die weite Welt zu verlieren und sucht zig Gründe, um den Zehnjährigen an sich zu binden. „Sie änderte ihre Strategie und fragte mich: ‚Liebst du deine Mutter ein wenig?‘ – ‚Ich liebe meine Mutter fürchterlich.‘ – ‚Warum machst du mich dann todunglücklich? Warum bereitest du mir so viel Kummer?‘ – ‚Es ist überhaupt nicht meine Absicht, dir Kummer zu bereiten, aber ich will so schrecklich gerne auf das Realgymnasium.‘ – ‚Es wird dir schlecht bekommen, sei also klug und gehe nicht hin. Tu mir das nicht an, wenn du ich nur ein bisschen liebst.‘“
Vergnügliche Lesepause? Wohl kaum. Auf 320 Seiten entwirft ’t Hart das Psychogramm einer von ihrer streng religiösen Prägung geplagten Frau. Der teure Metallbaukasten, den der Achtjährige von seinem Großvater zum Geburtstag erhält darf nicht ausgepackt werden. „Bist du von allen Geistern verlassen? Ein so teures Geschenk! Lass deine Finger davon.“
Geht sein Vater aus dem Haus muss eines der Kinder mitkommen, damit er nicht heimlich fremdgehen kann. Selbst der erwachsene, längst verheiratete Sohn wird Jahrzehnte später verdächtigt. „Ich habe neulich gehört, dass du eine Lesung in Schiedam gemacht hast, nun, aus welchem Grund solltest du dort eine Lesung machen, außer weil du da eine Geliebte hast.“
Zu Zärtlichkeiten ist Magdalena unfähig.
„Nie auch nur ein Streicheln über den Kopf“, wird Leny im Buch zitiert. Zur Enge daheim kommt die gesellschaftliche Prägung des strengen Calvinismus, der wie in den Romanen ’t Harts barsch auseinander genommen, mit seinen zahlreichen Widersprüchen konfrontiert wird. Der Autor erinnert sich, wie er als Junge am Hafen stand und kontrollierte, wie lange es dauert, ein Tier vom Ufer ans Schiff zu bringen. Er bewies, dass allein das Beladen der Arche Noah drei Jahre gedauert haben musste. In der Zeit wären viele Tiere längst gestorben. Dazu kommt das Problem mit den Parasiten, die nur im Wirt überleben können. „Noah und seine Frau mit ihren drei Söhnen und drei Schwiegertöchtern, insgesamt acht Personen, hatten pro Person eine Vielzahl von Parasiten auf oder in ihrem Körper: Filzläuse, Bandwürmer, Spulwürmer, Kopfläuse und Dutzende andere, oft sogar tödliche Parasiten.“
Mit derartigen Respektlosigkeiten hat sich ’t Hart in den Niederlanden früh Feinde gemacht. „Bereits 1971, in seinem ersten Buch, ist er auf Distanz zum calvinistischen Milieu gegangen“, sagt sein deutscher Übersetzer Gregor Seferens, „von seinen ehemaligen Glaubensgenossen wurde er als Apostat wahrgenommen.“ Während ’t Hart in seiner Heimat seit über vier Jahrzehnten als kritischer Essayist und Polemiker gilt, begann seine Karriere in Deutschland erst 1997, mit der Veröffentlichung seines kriminalistischen Entwicklungsromans „Das Wüten der ganzen Welt“. Auf das im Original 1993 erschienene Buch war der Schweizer Arche-Verlag aufmerksam geworden, nachdem die Niederlande und Flandern im selben Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse gewesen waren. Eine vorherige Veröffentlichung des Romans „Ein Schwarm Regenbrachvögel“ im Jahr 1988 bei Suhrkamp hatte sich nicht durchsetzen können.
Hier der Erzähler für den Strandkorb, dort der provozierende Intellektuelle, der auch mal als Frau verkleidet beim Schriftstellerball im März aufschlägt: „Anfang der 70er Jahren wurde ’t Hart nach seinem Bruch mit dem Calvinismus von fortschrittlichen Kräften vereinnahmt“, sagt Seferens, „bis er einige Streitschriften gegen den Feminismus veröffentlichte. Maarten ’t Hart hat auch die Tierschutzpartei zweimal unterstützt. 2004 sollte er als Kandidat für das Europaparlament Stimmen sammeln, verzichtete dann aber auf eine Kandidatur, weil Voraussetzung war, dass er einen Personalausweis beantragt. Das lehnte er ab. 2006 sollte er ebenfalls als Kandidat bei den nationalen Parlamentswahlen Stimmen für die Partei sammeln. Als er herausfand, dass die Fraktionsvorsitzende der Partij voor de Dieren und ein Parlamentsabgeordneter bekennende Mitglieder der Siebenten-Tags-Adventisten waren, verzichtete er auf die Kandidatur.“
Der Münchner Piper-Verlag, der seit 2003 vor allem die Romane des Autors in durcheinander gewürfelter Reihenfolge herausbringt, wird sich in Zukunft vielleicht an die anderen Bücher herantrauen. Im Regal von Lektor Thomas Tebbe liegt beispielsweise „De Schrift betwist: De Bijbel is niets meer dan gebakken lucht“, was so viel heißt wie „Die Schrift in Zweifeln gezogen: Die Bibel ist nicht mehr als heiße Luft“. In die Kirche geht der Autor nur, wenn er als Organist für Taufen und Beerdigungen angefragt wird. Tritt ’t Hart beim Kölner Lesefest lit.Cologne auf, dann in der „Kulturkirche“, wo er sich anschließend an die Orgel setzen kann; tagsüber, nie abends. Der Autor übernachtet ungern außerhalb und fährt stets am gleichen Tag nach Warmond in der Nähe von Leiden zurück, wo er in einem großen Haus mit noch größerem Garten wohnt.
Im Frühjahr 2016 erscheinen bei Piper seine Gartenkolumnen „Die grüne Übermacht“, pünktlich vor der dann folgenden Frankfurter Buchmesse, wenn die Niederlande und Flandern erneut als Gastland eingeladen sind. Vielleicht findet sich dann ein neuer Star? Mit dem calvinistischen Glauben hat ’t Hart außer in seinen Büchern nichts mehr zu tun. Da verhält sich der Sohn ganz anders als seine Mutter, die sogar testamentarisch verfügte, welche Psalmen bei ihrer Totenfeier zu singen seien – selbstverständlich nur in der alten Übersetzung. Magdalena starb vor drei Jahren. Stets hatte sie ihren Sohn beschworen, keinesfalls vor ihrem Tod etwas über sie zu schreiben. Sie verfügte ein Schweigen. Endlich wurde es gebrochen. „Ich bin erleichtert“, schreibt Leny t’ Hart per E-Mail. Es war gewiss keine leichte Zeit.
Maarten ’t Hart; „Magdalena – Eine Familiengeschichte“, übersetzt von Gregor Seferens, Piper, 320 Seiten, 22 Euro / Das Beitragsbild ist von Wikipedia