Hört auf die Buchblogs zu dissen – es gibt fast nichts anderes mehr. Deshalb: Bücherbewertungen im Netz – Liebhaberei, Kritik, Schund? Warum wir Blogs brauchen. Ein Debattenbeitrag.
„Literaturblogger wollen gar keine Kritiker sein.“ Mit dieser verkürzenden Überschrift war das Vorurteil in der Welt (gemeint waren in dem Satz nämlich nur jene bunten Liebhaberseiten wie „Ankas Geblubbert“ oder „Tintenhain„). Caterina Kirsten (Beitragsbild oben), freie Lektorin, Redakteurin beim Deutschen Buchpreis und Bloggerin auf „schoeneseiten.net“ hat im Branchenmagazin „Börsenblatt“ (eben hier) über „ein weit verbreitetes Missverständnis“ referiert. „Blogs erreichen auch jene Leser, die mit der klassischen Kritik wenig anfangen können – sei es, weil die dort vertretene Literatur sie nicht anspricht, sei es, weil sie von den Kritiken überfordert oder gelangweilt sind. Blogs sind in der Regel niedrigschwelliger und persönlicher, ihre Betreiber scheuen sich weder vor Emotionen noch davor, »ich« zu sagen, hier findet also tatsächlich ein Gespräch »auf Augenhöhe« statt“, schreibt sie, allerdings nachdem sie festgehalten hat, dass die Landschaft der deutschsprachigen Literaturblogs disparat sei.
Für derartige Feinheiten hatte die anschließende Diskussion nicht an jeder Stelle Platz. Während die Kollegen von der „Literarischen Welt“ Kirsten „Hirn und noch mehr Herz“ bescheinigten, nahm Thomas Wörtche (Bild), Berufskritiker und Jurymitglied des Deutschen Krimi Preises, Kirstens „fast rührenden Artikel“ (eben hier) zum Anlass, die Bloggerszene anzugreifen.
„Wenn ich den Text richtig verstanden habe“, schreibt er, „möchten viele Blogger einfach ihrem Hobby nachgehen und sich mit anderen Menschen über ihre Lieblingsbücher austauschen. Weil es aber in der Öffentlichkeit – und sei sie die begrenzte Öffentlichkeit der Blogger – keine Unschuld gibt, ist diese Grenzlinie problematisch. Das sieht man schon daran, dass den Marketingabteilungen vieler Verlage die Blogger als Multiplikatoren noch ihrer schundigsten Produkte gerade recht kommen.“ Das klingt verbittert. Das klingt unbarmherzig. Nicht umsonst heißt Wörtches Kolumne auf dem von ihm mitgegründeten Internet-Blog-Portal „Culturmag“ auch „Bloody Splinters“.
Der Mann hat Meinung und als Krimispezialist verfügt er über hartgesottene Sprachmittel, dieser Meinung Gewicht zu verleihen. Ausschlaggebend für Wörtches Wutausbruch war allerdings nicht die Börsenblatt-Kolumne, sondern Krimimimi Miriam Semrau, die sich einen Fauxpas geleistet hat, der selbstverständlich peinlich ist. Wörtche schreibt: „Unter einer ‚Besprechung‘ von James Lee Burkes Roman „Regengötter“ fand sich keine Angabe des Übersetzers. Kann vorkommen, shit happens. Darauf fragte Gabriele Haefs, eine der profiliertesten und renommiertesten Übersetzerinnen des Landes, ob Burke wohl auf Deutsch schreibe? Darauf antwortete die Mimi, sie beschränke sich „in meinen Artikeln auf die Informationen, die Leser als hilfreich empfinden bei der Auswahl der für sie interessanten Bücher. Und bisher habe ich noch mit niemandem gesprochen der Lieblingsübersetzer hat.“
Wörtche sieht in dieser tatsächlich kuriosen Aussage (ich habe zum Beispiel „Lieblingsübersetzer“ wie Carl Weissner oder Gregor Seferens) „alle Grenzen des Tolerierbaren“ überschritten und eine „kaltschnäuzige Dummheit“ am Werk. – Man mag die Krimimimi fast in Schutz nehmen, gehört es doch bei vielen verschiedenen, auch öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht mehr selbstverständlich dazu, den Übersetzer eines Werks zu nennen (in 1LIVE wird seit Jahren nicht einmal der Verlag angegeben, weil bewiesen ist, dass sich kein Hörer eines 2:30-Minutenbeitrags an dem Veröffentlichungsort eines Werks erinnert). Allerdings würde niemand behaupten, dieser Weg sei begrüßenswert. Nur: Es wird gemacht. Und Standards verschwinden – allerdings nicht im Feuilleton. Dort verschwindet gleich das komplette Format. Aber dazu weiter unten mehr. Wichtig in dem Zusammenhang Kirsten/Wörtche et.al. ist eine ganz andere Frage: Steht es tatsächlich so schlimm um die deutsche Literaturbloglandschaft? Welche Aufgabe haben Literaturblogs? Und weshalb behaupte ich, dass Blogs für eine funktionierende Literaturkritik im Jahr 2015 unerlässlich sind?
„Der größte Teil der Blogs mit literaturkritischem Bezug hat eher empfehlenden denn kritischen Charakter“, konstatiert Guido Graf (Bild), wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim gegenüber LesenMitLinks. Sophie Weigand, gelernte Buchhändlerin und begeisterte Bloggerin der nicht mit dem gleichnamigen Printmagazin zu verwechselnden „Literaturen“-Seite, vermutet:
„Dem einen mag es Angst machen, dass nun auch Menschen, denen ein wissenschaftlicher Hintergrund fehlt, in der Öffentlichkeit des Internets über Literatur sprechen können und gehört werden. (…) Ich glaube, Literaturblogs beleben den Dialog über Literatur und daran kann ich zunächst einmal nichts Schlechtes oder Kritikwürdiges erkennen.“ Und Thomas Hummitzsch, der den Kritikblog „Intellectures“ betreibt, gibt mit Bezug auf Kirstens Text zu bedenken:
„Ich habe meine Schwierigkeiten mit dem Text, weil darin eine grundsätzliche Linie zwischen Bloggern und Kritikern gezogen wird, nach dem Motto, Blogger sind so und so, wollen das und das, und haben die und die Mittel, während ‚professionelle Kritiker‘ aus einer anderen Haltung heraus aktiv werden, offenbar hochtrabend und unpersönlich schreiben und nicht über die Mittel verfügen, die Blogger haben. Ich glaube, dass das Unsinn ist, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen kann man die Frage nach Formaten, Genres und Themen getrost zur Seite legen. Es herrscht längst eine Gleichheit der Mittel der Wahl. Die FAZ ergänzt ihre Onlineausgabe mit den FAZ-Blogs, der Freitag pflegt eine sehr aktive Onlinecommunity, in der Debatten stattfinden etc. Ich wüsste nicht, welcher Unterschied hier zu den vermeintlich innovativeren Blogs herrscht. Zum anderen gefällt mir die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Professioneller und Laienkritik nicht. Oft sind Blogger wie ich zugleich auch freiberufliche Journalisten, erst recht im Zeitalter des Ausdünnens der (Kultur)Redaktionen. Diese Kollegen legen doch ihre professionelle Haltung nicht plötzlich ab, wenn sie ihren Text in den Blog stellen.“
Zwei Lager, so scheint es, stehen hier unvereinbar gegenüber. Auf der einen Seite sind die Leser eines Feuilletons, die sich selbst im Jahr 2015 augenscheinlich nach Joachim Fest, konservativer Herausgeber der F.A.Z. von 1972 bis 1993 zurücksehnen. Auf der anderen stehen Literaturbegeisterte unterschiedlichen Professionalisierungsgrades, die sich gemeinsam auf der digitalen Agora austauschen, ohne vorherigen Qualitätscheck das gleiche Internet vollschreiben wie die philosophischen Doktoren, germanistischen Lehrbeauftragten und Jurymitglieder, die beizeiten vom Parnass herab ins Netz schweben. In Zeiten, die Graf beschreibt als eine der „Ausdünnung der Publikationsorte und des Verschwindens der Erwerbssituation Literaturkritiker“, ermöglichen Blogs jenen, die keine Belletristikkolumne haben, ständig über Literatur nachzudenken, auch wenn gerade kein Rezensionsauftrag in Sicht ist. Und das dürfte heute eher Regel denn Ausnahme sein.
Thierry Chervel, Chef der täglichen Linksammlung „Perlentaucher“ beklagte bereits vor sechs Monaten in einem Deutschlandradio-Interview: „Im Jahr 2001 habe der Perlentaucher noch 4330 Kritiken auswerten können, im Jahr 2013 dagegen nur noch 2200.“ Das entspricht einem Rückgang von knapp 50 Prozent. Wenn aber das Feuilleton die Kritik aufgibt und die literaturkritisch denkenden Publizisten nicht mehr entlohnen mag wird eine andere Gruppe Debattenplätze belegen. – Ich kann auch eigener Erfahrung von der Prekarisierung der Kritik sprechen. Die Honorare liegen zwischen 1,3 cent pro Zeichen (das macht 85 Euro für die Zeitungsseite), 100 Euro in Fachmagazinen für die Doppelseite und 200 Euro im öffentlich-rechtlichen Radio. Allein in 1LIVE wurden in den vergangenen neun Monaten eingestellt: Die Berichterstattung zu 1LIVE Klubbing auf der eigenen Homepage, die wöchentliche Produktion einer 1LIVE Shortstory. Hinzu kommt die Reduzierung der abendlichen Rezensionsplätze von zwei auf 1,5 Beiträge (oder von 5:00 auf 3:30 Minuten in der Woche).
Für mich war das nicht mehr lukrativ und nach meiner Dissertationsphase im Sommer 2016 werde ich einen anderen Weg finden, um Literaturkritik weiterhin betreiben zu können – bislang bin ich noch in der Spielphase und komme „irgendwie klar.“ Aber das kann kaum das Maß für zukünftige Engagements sein. – Ein schönes Projekt ist deshalb ein Blog wie LesenMitLinks, der es mir ermöglicht, über Literatur nachzudenken, mit dem Linkradar nahezu wöchentlich die Neuigkeiten der Szene abzugreifen, im Diskurs zu bleiben und die Debatten weiterhin zu begleiten. Eine Familie ernährt man damit nicht. Immer wieder erkundige ich mich bei freiberuflichen Kollegen meiner Generation, die teilweise auf halben Lektoratsstellen sitzen, bei ihren Eltern wohnen oder das WG-Zimmer in Berlin vorziehen. Frage ich nach ihren tatsächlichen Einnahmen, so höre ich Summen zwischen 10.000 und 50.000 Euro – wobei festgehalten werden sollte, dass Einnahmen von 50.000 Euro im Jahr gerade eben reichen, um 1.400 Euro netto monatlich zu haben, denn abgezogen werden zunächst alle Kosten, beispielsweise für Computer, Reisen, Bücher. Von diesem Bruttobetrag werden Steuern und Sozialabgaben bezahlt. Aber: Deshalb nicht mehr über Bücher debattieren? Das wäre albern. An Universitäten wird auch seit jeher auf hohem Niveau über Literatur nachgedacht, ohne das jemand hauptberuflicher Kritiker sein müsste, um mitreden zu können. Wie die Uni ist auch das Internet nur eine neue Plattform. Sie ist das Medium. Nicht die Message.
Kein Wunder, dass ein Projekt wie „DILIMAG“ entstanden ist, wo seit 2007 die wichtigsten deutschsprachigen Literaturblogs archiviert werden. Laien finden hier keinen Zugang. „Als Teilbestand der Sammlung des Innsbrucker Zeitungsarchivs folgen wir bei der Auswahl den Richtlinien des Archivs, soweit dies möglich und sinnvoll ist“, schreibt Projektleiterin Renate Giacomuzzi (hier geht es zum kompletten Interview). Das dürfte doch alle zufrieden stellen. Statt im kompletten freien Internet sei allen Liebhabern des Hardcore-Feuilletons empfohlen, nur jene Literaturkritik zu lesen, die über die Innsbrucker Zeitungsarchiv zugänglich gemacht wird. Aber Vorsicht: Die Seite „We read Indie“, die Caterina Kirsten mit gegründet hat ist hier auch vertreten.
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