2015 war gewiss nicht das beste Jahr der 2000er. Es war das Jahr der Angst, das Jahr der politischen Spaltung, der fehlenden [kõtəˈnɑ̃ːs], das Jahr von Daesh, Charlie Hebdo, das Jahr der fürchterlichen Krise in Griechenland. des noch weitergehenden Rechtsrucks in einem entsolidarisierten Europa, das Jahr der Vertreibung, der Flucht, des Elends. Es gibt viele Gründe, 2016 heißen Herzens zu begrüßen: Deshalb gibt es ausnahmsweise keinen Blick zurück im Zorn, sondern eine kurze Rekapitulation dessen, was war. Heute gibt es Teil I, morgen Teil II und übermorgen einen freundlichen Gruß mit Odo Marquard (der 2015 unglücksligerweise gestorben ist). Der Überblick mit vielen Links. Das beitragsmild zeigt eine Werbung in Wien, die das Buch gegen ein Tablet tauschen will – mit fadenscheiniger Begründung.
In eigener Sache: „Lesen mit Links“ ist auf einem guten Weg. Seit diesem Jahr wird der Blog vom Innsbrucker Zeitungsarchiv gesichert, die Zugriffszahlen haben sich verdoppelt und mit diesem Rückblick ist Text Nummer 720 online (oder wenn man die Zeichenzahl in Clemens Setz’ umrechnet: Wir haben zweimal „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ vorliegen). Für Setz war es ein aufregendes Jahr: auf Facebook wurde er bedroht, den Deutschen Buchpreis bekam er nicht (war aber Favorit) und in Kooperation mit Sobooks, Suhrkamp und Guido Graf gibt es diese schöne Social-Reading-Aktion. Im Februar 2016 findet dieses Seminar an der Uni Düsseldorf statt. Und mit Suhrkamp geht es weiter: Anfang des Jahres wurde bekannt, dass die Familie Ströher neuer Teilhaber wird. Im Sommer starb überraschend der ehemalige Teilhaber Hans Barlach. Zur Frankfurter Buchmesse vermeldete Suhrkamp, dass die Insolvenzen sämtlicher Gesellschaften abgeschlossen wurden. Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz zieht sich nun aus dem operativen Geschäft zurück.
Fehlt: Der großartige Metrolit-Verlag wird keine neuen Bücher bringen. Er hat Aufbau wirtschaftlich nicht überzeugt – war aber literarisch stets brillant. Zum 1. Januar 2016 schließt das Buchhaus Stern-Verlag in Düsseldorf. Eine Institution. Große Kritiker sind 2015 gestorben: Hellmuth Karasek und Fritz J. Raddatz. Um die Rentabilitätsvorstellungen der Bonnier-Gruppe erfüllen zu können (die Schweden hatten den Verlag 2012 übernommen) wird im Berlin-Verlag eine der wichtigsten Stellen eingespart. Pressesprecherin Uta Niederstraßer geht. Eine Nachfolge gibt es nicht. Und Petra Baumann, Pressesprecherin bei S. Fischer geht nach 26 Jahren in Rente.
VIER x Lorbeer: Der Literatur-Nobelpreis, ging an die weißrussische Journalistin und Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch. Der Preis der Leipziger Buchmesse wurde Lyriker Jan Wagner für seine „Regentonnenvariationen“ verliehen. Den Deutschen Buchpreis bekam ein Autor, der in Leipzig noch geknickt gewesen war, weil sich niemand für ihn interessierte: Frank Witzel und sein Schelmenroman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“. Rainald Goetz wurde gleich zweimal ausgezeichnet. Das Tübinger Seminar für Rhetorik hat die Büchner-Preis-Rede von Rainald Goetz und die Laudatio von F.A.Z.-Mitherausgeber Jürgen Kaube zu den Reden des Jahres 2015 gekürt.
Die 100 wichtigsten Dinge: sind gerade bei Hatje Cantz erschienen. Ich bin dabei, zwischen Rafael Horzon, Daniel Kehlmann, Markus Lüpertz, Claudius Seidl usw. Mein Ding war „Das Pedal“ und weil der Text umgeschrieben erschienen ist gibt es hier das Original, als kleine Atempause: „Das Pedal ist ein verschwindendes Relikt. Menschen benutzen ihre Hände. Das unterscheidet sie vom Tier. Das Fuß betriebene Pedal ist eine Referenz an Urwälder, Steppen und Tümpeln, aus denen wir hervorgekrochen sind. Mit Seilzügen und Gestängen regelt das Pedal den Luftdurchsatz, steuert unzählige Bandmaschinen –zuerst in Webereien, hinterher an den Schreibmaschinenplätzen der
Diktate abtippenden Sekretärinnen. Das Pedal moduliert den Tastenton aus Klavieren und steuert Orgelpfeifen an. Die Seitenruder alter Flugzeuge werden ebenso mit Pedalen justiert wie die Hochachsen der Helikopter. Das Pedal hatte seine Hochzeit im industriellen Zeitalter. Irgendwann kamen einbeinige Männer aus den Schlachten heim und konnten nicht mehr kuppeln. Jetzt sitzen wir alle in vollautomatischen Maschinensystemen, die keine Pedale brauchen. Wir tippen und skippen und emulieren. Der harte Tritt aufs Pedal ist abgelöst worden vom sanften Berühren opaker Oberflächen. Was wir steuern, spüren wir nicht mehr. Es ist wie ein Hauch. Warte, bald, spürest Du auch den nicht mehr.“
Debatten: Es wurde viel diskutiert über die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse an Jan Wagner. Aber es gab auch noch andere Sachen. „Literaturblogger wollen gar keine Kritiker sein.“ Mit dieser verkürzenden Überschrift war das Vorurteil in der Welt (gemeint waren in dem Satz nämlich nur jene bunten Liebhaberseiten wie „Ankas Geblubbert“ oder „Tintenhain„). Deshalb wurde über Sinn und Zweck von Literaturblogs diskutiert, bis daraus eine große Perlentaucher-Debatte entstanden war. Im Herbst ging es weiter. „So schafft sich der Deutsche Buchpreis ab.“ Unter dieser Überschrift ätzt Richard Kämmerlings, leitender Feuilletonredakteur der Welt hier gegen die Shortlist, die seiner Meinung nach jeglichen Sachverstandes entbehrt. Deshalb wurde gefragt, wie eine Buchjury eigentlich zusammengesetzt sein sollte. Nach seinem wirren Auftritt bei Pegida wurde dann auch noch verhandelt, wie eigentlich mit Akif Pirnicci und seinen Büchern umgegangen werden sollte. Nein, das war nicht schön.
Pausenvideo
Ich erinnere mich an die Zeit, als ich noch in Clubs Indie-Musik aufgelegt habe. Damals war ich fest überzeugt, die aktuellsten Hits zu kennen, weil ich natürlich wusste, wozu die Menge tanzt. Wie überrascht war ich dann, als ich drei Jahre, nachdem wir Mando Diao rauf und runter gespielt hatten, erfahren musste, die Schweden würden jetzt ihr erstes Album in Deutschland veröffentlichen. Ich war fest davon überzeugt, dass „Bring ’em In“ und „Hurricane Bar“ allbekannt waren. Genauso verwundert war ich vor wenigen Wochen, als ich erfahren musste, dass die fantastische Mini-Serie „Deutschland 83“ beim Publikum durchgefallen ist (klingt schon fast nach dem Schicksal von Metrolit). Wer es noch nicht gesehen hat: anschauen. Das Ding ist fantastisch.
Konsuminventur
Wenn der Muezzin dreimal ruft: 2015 war auch das Jahr, in dem permanent Menschen verrückt gespielt haben, weil sie aus dem Supermarktangebot Belege für eine Zwangs-Islamisierung des Abendlandes herausgelesen haben. Nach Protesten nahm Spar sein Halal-Fleisch aus dem Sortiment. Dann wurden die Schokoladenhersteller von Lindt angegriffen, weil einer ihrer Adventskalender (der seit zehn Jahren vertrieben wird) angeblich orientalisch angehaucht ist. Die Satireseite Postillon hat die richtigen Worte gefunden, als sie diese Fake-Aufregergeschichte veröffentlichte: „Verdammte politische Korrektheit! Weihnachtsreifen heißen jetzt plötzlich Winterreifen“
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