The Clash, Sid Vicious, Vivienne Westwood: Über den westlichen Punk wissen wir beinahe alles. Über die Punkszene des Ostblocks so gut wie nichts. Das ändert der ZONIC-Almanach für kulturelle Randstandsblicke & Involvierungsmomente, der gerade im 20. Jahrgang erscheint.
Unzählige Ausstellungen, Interviewbücher und Forschungsprojekte fragen seit Jahrzehnten nach der Geschichte der westlichen Punk-Kultur. „Es gibt eine geradezu monomanische Aufarbeitung unterschiedlichster Popkulturen. Bei einem Label wie Soul Jazz kann man brasilianischen Post-Punk kaufen, aber eben keinen aus Belgrad oder Ljubljana“, sagt Alexander Pehlemann aus Leipzig, seit 1993 Herausgeber des Zonic-Almanachs. Der beschäftigt sich mit popkulturellen Themen, die westlichen Popfans nahezu unbekannt sind, aktuell mit polnischem Underground der 1980er Jahre, mit der ersten Punk-Band des Warschauer Pakts, den SPIONS aus Budapest, mit „Satan Panonski, dem Anti-Hero des Jugo-Punk“ und „musikalisch-literarischen Phänomenen in der Ukraine“. „In vielen Medien haben die Journalisten eine westeuropäische Popsozialisation erlebt“, sagt Alexander Pehlemann, „und die kurze Phase der Neugier Anfang der 1990er Jahre hat nicht für langanhaltendes Interesse gesorgt.“ Zonic will das ändern. Eine Reise in Stationen durch einen Ostblock, der laut Alexander Pehlemann, „gar nicht so monolithisch war, wie man es vermuten würde.“
Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) Seit einiger Zeit präsentiert sich Chemnitz als feste Größe in der deutschen Popmusikszene. In Discos wird zum Hit „Ich will nicht nach Berlin“ der Electroclash-Band Kraftklub getanzt. Dass die fünfköpfige Combo einen direkten Bezug zur Ost-Avantgarde-Szene der Achtziger hat, wissen die wenigstens. Kraftklub-Sänger Felix und Bassist Till Kummer sind die Söhne von Ina und Jan Kummer, den Mitbegründern der Avantgarde-Gruppe AG Geige, denen Zonic etliche Seiten im aktuellen Heft widmet. Heute erscheinen Kraftclub beim Major-Konzern Universal, während ein Teil der Ex-AG Geige das weltweit geschätzte Elektroniklabel Rasternoton betreibt. Bis Ende der Achtziger wurden dagegen Untergrundbands von der staatlichen Popszene ignoriert. Die schrägen Sounds jener Zeit wurde auf Kassetten veröffentlicht und zumeist weitergereicht, selten verkauft. Erst Mitte des Jahrzehnts öffnete sich der Rundfunk für solche Klänge und erst kurz vorm Zusammenbruch war denkbar, dass Musik wie die der AG Geige auf dem offiziellen Label Amiga auftauchen würde. Das war bis dahin schunkelnden Mainstreambands wie den „Puhdys“ vorbehalten, die man vom Soundtrack des Films „Die Legende von Paul und Paula“ kennt (übrigens dem Lieblingskinostreifen von Bundeskanzlerin Angela Merkel).
Warschau/Gdansk Die polnische Punk- und Reggaeszene entstand in den 70er und 80er Jahren in einem zerrissenen Land und unterschied sich in der Wahrnehmung deutlich von jener in der DDR. Einerseits gab es mit der Solidarność eine breit aufgestellte Oppositionsbewegung, andererseits das noch herrschende kommunistische Regime. Die alternative Musikszene hat aber zumeist versucht, sich aus diesen Bewegungen rauszuhalten, was im aktuellen Zonic-Magazin eindrucksvoll beschrieben wird. Die dort auftretenden Bands sahen sich als ästhetische Alternative zum katholischen Nationalismus der Solidarność auf der einen und dem staatlichen Regime auf der anderen Seite. „Es gab Bands, die es geschafft haben, in der westlichen Wahrnehmung Platten zu lancieren, wie Kryzys oder Deadlock, die in Frankreich erschienen“, sagt Alexander Pehlemann. Im Gegensatz zur DDR veröffentlichte das staatliche Plattenlabel in Polen aber bereits 1982 das erste Vinyls von Underground-Bands: Brigade Kyzys und Republik. „Ab Mitte der Achtziger Jahre gab es dann eine wahre Schwemme derartiger Veröffentlichungen“, sagt Alexander Pehlemann.
Moskau/Leningrad Im Zuge der Reformen unter den beiden Leitmotiven „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umgestaltung) gelang es etlichen sowjetischen Punkbands, Platten zu veröffentlichen; doch auch hier war der „Magnetbanduntergrund“ aktiv, also die Weitergabe von Musik über Kassetten oder zuvor sogar auf Spulentonbändern. Im Gegensatz zur ostdeutschen und polnischen Punkmusik wurde der sowjetische Underground aber bereits ab Mitte der Achtziger Jahre auch im Westen bekannt. Ab 2000 hat der russisch-deutsche Autor Wladimir Kaminer mit seinem Bestseller „Russendisko“ für eine weitere Verbreitung dieser Musik gesorgt, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Alexander Pehlemann erinnert daran, dass sich zudem auch „ein Protestphänomen wie Pussy Riot seine Verwurzelung im russischen Punk, Post-Punk und der sowjetischen Konzeptkunst hat. Da lässt sich eine direkte Linie ziehen bis zu den ersten Bands aus Moskau oder Leningrad.“
Man kann zusammenfassen, dass die Punk- und Undergroundszene im Ostblock mit unterschiedlichen Affekten umgehen musste. Reagierte das DDR-Regime bis Mitte der 80er Jahre teilweise mit Gefängnis, verhielten sich das polnische oder auch das ungarische Regime cleverer. Sie ermöglichten Spielwiesen, veröffentlichten Bands aus dem Underground, um ein Ventil für die Jugend zu schaffen; letzte Versuche der Duldung oder Umarmung, die die Geschichte aber nicht aufhalten konnten. 1989 fiel die Berliner Mauer und mit ihr der Eiserne Vorhang. Das Zonic-Magazin arbeitet neben vielem Anderen seit zwanzig Jahren die Geschichte und heutige Rezeption dieses sehr großen Popphänomens auf, während aktuelle Bands wie „Kraftklub“ beweisen: Der Ostblock mag sich verändert haben, mit seinen Kindern kann man weiterhin wunderbar feiern, tanzen und Parties veranstalten (aber notwendigerweise genauso auch über heutige Wechselwirkungen von Kultur und Gesellschaft streiten).
Bildnachweis: Alle hier verwendeten Fotografien sind aus ZONIC No. 20. (Beitragsbild: „Die Gehirne“)
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