Eines der meistgelobten Debütromane des Sommers ist Katharina Hartwells 570-Seiten-Werk „Das fremde Meer“. Dort erträumt sie in neun Geschichten die Liebe: Als Science-Fiction, Ritterroman, Märchen, Gothic Novel.
Von Kindestagen an war Marie ein wildes Kind: „Ich gehörte zu den Menschen, die glauben, dass sie sich schützen können, wenn sie mit dem Schlimmsten rechnen, dass die Katastrophen immer nur die treffen, die nicht auf sie vorbereitet sind. Dass man ihnen entkommen kann, wenn man sie erwartet.“ Sie klettert auf die höchsten Bäume und hat die blühendste Phantasie. In Gedanken entwirft sie jeden Morgen einen neuen Kosmos, vielleicht, weil sie allein mit ihrer Mutter, den Großeltern und der jüngeren Schwester auf. Den Vater haben sie vom Umzug aus der Stadt aufs Land zurückgelassen. Jahre später wird die Geschichten spinnende Marie den Fotografen Jan kennenlernen, ihre erste echte männliche Bezugsperson.
Doch Marie will fort. Sie möchte Jan nicht mit der Restrealität teilen und entwirft in neun erdachten Storys alternative Geschichten ihrer problematischen Liebe. Der Plot ist immer ähnlich: Ein Mann und eine Frau, er stets mit einem „J“ am Anfang des Vornamens, sie mit einem „M“, wollen aus ihrer gegenwärtigen Lage ausbrechen. Sie planen die Flucht aus einer Welt, die langsam verschwindet. Sie wohnen auf zwei unterschiedliche Inseln und kommen wie die Königskinder nicht zusammen. Sie sind Ende des 19. Jahrhunderts im berühmten Pariser Nervenkrankenhaus „Hôpital de la Salpêtrière“ eingesperrt. Sie leben als Adelige in höfischen Zeiten, doch sie muss sich als Ritter verkleiden, um ihn zu gewinnen.
Hinter diesem sprachlichen Versteckspiel steht mehr als Maries Unsicherheit gegenüber Männern. Sie ist keine Wahnsinnige, die sich in fremde Geschichten träumt, sie steht vielmehr kurz vor dem Wahnsinn und hält ihn mit dem Geschichtenerzählen fern. Der tiefere oder tiefste Grund enträtselt sich zum Ende und ist düsterer Natur. Überraschenderweise oder vielleicht weil es stets Maries Visionen sind, ist der Ton dieser einzelnen Episoden durchweg auf gleicher Ebene
In der Ritterepisode kopiert Katharina Hartwell nicht die Sprache von Tristan, Erec, Parzifal. In der Irrenanstalt reden die Figuren nie, als kämen sie aus Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, und keine Märchengestalt raunt im Ton der Brüder Grimm, selbst wenn Sätze gesagt werden, wie: „Dieser Frosch muss geküsst werden“ oder „Die goldene Spindel darf nicht angefasst werden.“
Katharina Hartwell hat „Das fremde Meer“ als Abschlussarbeit ihres Studiums am Deutschen Literaturinstitut Leipzig eingereicht und weniger stilistisch, vor allem aber formal experimentiert. War ihr Kurzgeschichtenband „Im Eisluftballon“ noch ein klassisches Generationenportrait in mehreren Folgen, finden sich in „Das fremde Meer“ doppelte Böden, Fotografien, Zitate, Schwarz-Weiß-Gemälde. Schon die ersten Seiten sind mehr als die Nacherzählung von Maries Kindheit. Mit dem Bekenntnis, dass die Vorstellung des Allerschlimmsten schützt berichtet Katharina Hartwell hier als Autorin, welches Literaturverständnis sie hat.
Das ist vergleichbar mit Joachim Meyerhoff in „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war„, wenn der Schüler zu Beginn aus reinstem Narzissmus ein Erlebnis immer und immer wieder neu berichtet, ausschmückt, phantasiert, weil ihn die Zuwendung seiner Hörer kickt. Der Genremix ist sowieso eines der beliebtesten Spielzeuge der jungen, deutschen Gegenwartsliteratur. Sebastian Polmans druckt in „Junge“ Familienfotos ab. Thomas von Steinaecker experimentiert mit Comicstrips. Jan Brandt füllt eine Seite in „Gegen die Welt“ mit dem Wort „Mais“ und lehnt sich sowohl an Mark Z. Danielewski als auch an die Konkrete Poesie an. Wir warten alle auf den Roman, der wie Peter Glasers und Niklas Stillers „Der große Hirnriss“ vor 30 Jahren mit Soundtrack erscheint. Bei Katharina Hartwell wäre „Ambient“ eine gute Wahl.
Katharina Hartwell: „Das fremde Meer“, Berlin Verlag, 570 Seiten, 22,99 Euro