„A beautiful Mind“ und „Die Vermessung der Welt“ bestimmen massgeblich, wie Mathematiker gesehen werden. In ihrer verästelten Biographie „Der Beweis des Jahrhunderts“ beschreibt New York Times-Autorin Masha Gessen beispielhaft, wie das Genre „Geniebiographie“ momentan funktioniert.
Der Russe Grigorij Perelman schaffte 2002 den Beweis der Poincaré-Vermutung, einer von sieben sogenannten „Milleniumproblemen“ der Mathematik, für deren Lösung des Clay Institute in Cambridge ein Preisgeld von je 1 Million Dollar ausgelobt hat. Masha Gessen macht sich (ähnlich wie Marc Fischer in seinem Band „Hobalala“ über João Gilberto) auf die Suche nach einem Mann, der nicht bereit ist, mit seinem Biographen zu reden. (Der auch nicht gewillt ist, sich Haare und Fingernägel zu schneiden, weil er derartige Tätigkeiten für unnatürlich hält.)
Die russisch-amerikanische Journalistin, zuletzt im Fokus durch ihre viel beachtete Putin-Biographie spricht mit Weggefährten des Jahrhundertmathematikers, der auf das Preisgeld verzichtete, zu seiner Mutter zog und seitdem für niemanden zu sprechen und vermutlich dem Wahnsinn anheim gefallen ist. Er, der ein Jahrhunderträtsel gelöst hat, ist aus publizistischer Sicht nun selber eines.
Die Inszenierung eines Genies
Masha Gessen präsentiert die Geschichte eines inselbegabten Genies, das nie an den literarischen Dienstagen seiner Eliteklasse teilnahm, der sich ins Reich der Mathematik versenkte, ohne von spezifische andere Interessen wie Kino oder Popmusik. Im geschützten Raum der Mathematikschule von Lehrer Sergej Rukschin, der seine Eleven mit pädagogischem Eros zu Höchstleistungen anspornte, sie trainierte (tatsächlich gibt es Mathematik-Olympiaden) und auf ein Leben mit anderen Menschen vorbereitete, ohne Ihnen das Gefühl von Seltsamkeit zu geben:
„So machte Rukschin seine Schüler zur Erweiterung seiner selbst: Wenn er mit den anderen Jungen schwimmen ging und mit seinem Körper die Grenze zum tiefen Wasser markierte, über die sie nicht hinausschwimmen durften, saß Perelman am Ufer und zählte die Köpfe, damit keine verloren ging.“ – Derlei Anekdoten gehören zum inszenatorischen Repertoire etlicher populärwissenschaftlicher Geniebiographien. Die Sonderstellung des beobachteten Helden wird mit dem Alltagsverhalten eines gedachten Durchschnittsbürgers analysiert, der als Konsument zur Referenz wird – es gibt also ein bereits antizipiertes Publikum:
„Der Beweis des Jahrhunderts“ spielt, wie etliche andere Bücher des Genres „Genies beim Aufwachsen zusehen“, mit dem (Vor-)Wissen seiner bildungsbürgerlichen Leser. Es gibt keine erotische Adoleszenz. Perelman, so wird kolportiert habe sich eben nie für Frauen interessiert. Der Zugang zur Universität wurde ihm, dem Juden erschwert, was er aber nicht wahrhaben wollte, sondern in antisemitischen Diskriminierungen stets einen „gerechten Grund“ erkannte. Als er dann aber an der Universität angekommen ist, besucht Perelman im Gegensatz zu seinen Kommilitonen alle Vorlesungen, auch die über den historischen und den dialektischen Materialismus. Nie fällt er unter vier von fünf möglichen Punkten.
Dazu dann immer wieder „Trainingseinheiten“ und Vorbereitungslager für die Mathematik-Olympiaden, für die in der Sowjetunion nicht nur geistig, sondern auch körperlich trainiert wurde. Einige Jungmathematiker brechen in der Turnhalle ohnmächtig zusammen. Derartige Schilderungen haben freilich illustrierenden Charakter, aber keinen Bezug zur eigentlich Ereignis der Geschichte: Zur Lösung der Poincaré-Vermutung. Wären ähnliche Schilderungen denkbar im Zusammenhang eines Fachvortrages auf einer Mathematikertagung, in einem adeligen Salon, im Unterricht einer Hauptschulklasse? Es geht um Bildungsbürger, was man auch erkennen kann an Absätzen wie diesem:
„Nehmen wir eine einfache Funktion von der Art, die Sie in der Schule kennengelernt haben, zum Beispiel f(x)=1/x. Ein Graph dieser Funktion ist eine kontinuierliche Linie, bis er zu dem Punkt gelangt, an dem x=0 ist. Dort gerät die Sache aus dem Ruder, weil man durch null nicht teilen kann. Die Linie Ihres Graphen hebt plötzlich in Richtung Unendlichkeit ab. Das nennt man eine Singularität.“
Das mathematische Abenteuer
Das wahre Ereignis von Masche Gessens Buch sind die Formeln und vor allem der Versuch, diese Formeln allgemeinverständlich wiederzugeben, das Publikum für die Dimension des später gelösten Problems empfindsam zu machen: „Mathematiker lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: die Algebraiker, die es am einfachsten finden, alle Probleme auf Zahlen und Variablen zu reduzieren, und die Geometer, die die Welt durch Formen und Gestalten wahrnehmen. (Beispielbild rechts). „Natürlich machen Mathematiker Fehler. Das gehört zu ihrer Arbeit. Im Unterschied zu Geisteswissenschaftlern können sie nicht davon ausgehen, dass es vielleicht mehrere Wahrheiten gibt. Aber anders als Naturwissenschaftler können sie ihre Hypothesen nicht empirisch an Tatsachen in der Welt überprüfen.“
Pereleman entscheidet sich für die anachronistische Geometrie, die weder mit dem heißen Thema Computerwissenschaften, noch in irgendeiner Weise mit der Magie der Zahlen zu tun hatte. „Er wolle in einem Gebiet arbeiten, in dem nur noch einige wenige Dinosaurier herumstreiften, so dass er vielleicht auch einer werde.“
Von hier aus geht es weiter: Zur Analysis, die Perelman stets zu umgehen versuchte, weil sie ihn vermutlich nicht interessierte. Irgendwann wird ihm vorgehalten, nicht zu wissen, was eine Ableitung ist. Leider wird über die Beweise Perelmans erstaunlich wenig gesagt, ihre Problem so gut wie nie umrissen, obwohl es interessant gewesen wäre ansatzweise nahegebracht zu bekommen, worin denn die „atemberaubende Schönheit“ von Perelmans Beweis der sogenannten „Soul-Vermutung“ liegt, vor allem aber, was diese beinhaltet.
Die Poincaré-Vermutung
Der Poincaré-Vermutung nähert sich Masha Gesten dagegen mit mathematischer Akribie, von Euklid beginnend über Leonhard Euler, den Begründer der Topologie, von dem das immer noch faszinierende „Königsberger Brückenproblem“ stammt und von dem man zu Poincaré kommt: „Wir modernen Menschen, die aus eigener Erfahrung wissen, dass die Erde eine Kugel und ihre Oberfläche daher gekrümmt ist, leben in drei Dimensionen. Aber es gibt noch eine vierte Dimension – wir wissen, dass es sie gibt -, und die Dimension heißt Zeit. Wir können uns in der Zeit nicht rückwärts oder vorwärts bewegen, deshalb können wir unser dreidimensionales Habitat nicht beobachten, wie wir, wenn wir uns in die Lüfte erheben, das zweidimensionale Habitat der Tiere beobachten können. Wir müssen uns damit begnügen, den Raum zu erkunden, der uns umgibt, und darüber zu spekulieren, wie er wohl aus einem Blickwinkel aussehen mag, den wir zwar theoretisch behaupten, aber nicht erfahren und uns auch nicht wirklich vorstellen können. Das ist im Grunde der Kern der Poincaré-Vermutung. Der letzte Universalist nahm an , dass das Universum wie eine Kugel geformt sei – eine dreidimensionale Kugel.“
Für das Universum hat sich Perelman nicht interessiert, sondern nur für das Phänomen der dreidimensionale Oberfläche einer gedachten vierdimensionalen Kugel. Das Ganze kann man verstehen, wenn man sich vorstellt, dass auf einer Kugel alle Punkte, egal wo sie auf der Oberfläche dieser Kugel liegen gleich weit vom Mittelpunkt im Inneren entfernt sind, was man runterbrechen kann auf die „eindimensionale Kugel in einem zweidimensionalen Raum“, nämlich den Kreis, der ebenfalls aus Punkten besteht, die wiederum gleich weit vom Mittelpunkt des Kreises entfernt sind. Wie ist dies zu denken für das Beispiel besagter dreidimensionaler Oberfläche einer gedachten vierdimensionalen Kugel? Für einige andere Dimensionen wurde die Poincaré-Vermutung bewiesen, nur für die dritte nicht. Bis Perelman kam.
„Vielleicht liegt eines der Probleme mit vierdimensionalen Räumen darin, dass sie im Unterschied zu höherdimensionalen Räumen keine Abstraktion im vollen Sinn sind; dass wir Menschen einen dreidimensionalen Raum bewohnen, der in vier Dimensionen eingelassen ist, scheint durchaus nachvollziehbar, selbst wenn sich die meisten von uns das nicht vorstellen können.“ (Den anschließenden Beweis formuliert Masha Gessen, die für das Buch extra Mathematikunterricht genommen hat, jedoch nicht aus, sondern zeichnet stattdessen die Kommunikationswege jener Mathematiker nach, die versucht haben, Perelmans Beweis zu verifizieren.)
Über den Wahnsinn
Der Mathematik- und Physikunkundige kann auf drei Bücher zurückgreifen, die im Niveau ansteigend eine Näherung versuchen, zunächst das unterhaltsame Einführungsbuch „Der Zahlenteufel“ von Hans Magnus Enzensberger, „Warum die Welt mathematisch ist“ von John D. Barrow, das man am besten liest, bevor die Konstruktivsten am Horizont auftauchen (danach schaut man nie wieder hinein) und dann abschließend, mit sehr viel Emphase: „Die perfekte Welle“ von Heinrich Päs, bekannt durch Vorlesungen wie „Physik zwischen Brötchen und Borussia“ (lesbarer und interessanter als der Klassiker „Eine kurze Geschichte der Zeit“ von Stephen Hawking). Aber das nur am Rande.
Mit kollektiver Paranoia und Verschwörungen des kapitalistischen und den kommunistischen Systems steigt „Der Beweis des Jahrhunderts“ ein, mit dem Phänomen einer individuellen Paranoia schließt diese Biographie in einem letzten Kapitel, das Perelmans Flucht in die absolute Vereinzelung nachzeichnet. Ausgehend von der Vermutung, der Mathematiker leide am Asperger-Syndrom (hier geht es zum Selbsttest), wird gezeigt, wie sich Perelman der Öffentlichkeit entsagte, jegliche Zuwendung materieller oder beruflicher Art brüsk ablehnte und sich selbst zum Verschwinden brachte. Sein Problem, war gelöst. Für ihn gab es schlichtweg keinen Grund, weiter über Poincaré nachzudenken. Er nahm, vermutlich typisch für besagte Krankheit (die übrigens von Schah Baron-Cohens Cousin Simon formuliert), an keinen Ehrungen und Kongressen teil, lehnte sowohl die renommierte Fields-Medaille, als auch die 1 Million Dollar Preisgeld ab.
„Der Beweis des Jahrhunderts“ ist eine überraschend unmathematische Annäherung an den vermutlich größten Mathematiker des 21. Jahrhunderts. Es ist die Geschichte eines noch nicht abgeschlossenen Lebens, keine Nachzeichnung mathematischer Fragestellungen, deshalb sogar populistischer als „A beautiful Mind“, mit dem das Buch immer wieder verglichen wird, obwohl Perelman am Ende, man möchte sagen, „im letzten Kapitel seines beobachteten Lebens“ keineswegs unter ähnlichen Wahnvorstellungen wie John Nash einst leidet. Perelman will schlichtweg seine Ruhe haben.
„Das Rätsel des Jahrhunderts“ ist also: weniger unterhaltsam als die Satire „Die Vermessung der Welt“. Im Aufbau unterscheidet sich dieses Werk auf der Formeben nicht von anderen Biographien unserer Zeit, davon abgesehen, dass es hier keine Erinnerungsfotos im Mittelteil oder als Anhang gibt. Mathematik für den Markt, ein Publikumsinteresse bedienend, dass auf eine immer gleiche Grenze stoßen wird, nämlich jene, dass Mathematik nicht mit sprachlichen Mitteln reformulierbar ist. Es dennoch, wenn auch zu selten, zu versuchen, ist ein Verdienst dieses Buchs.
Masha Gessen: „Der Beweis des Jahrhunderts“, Suhrkamp, 322 Seiten, 22,95 Euro
Hier geht es zum 1LIVE Radiobeitrag vom 1. Juli 2013 (mit Max von Malotki)
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