„Es heißt ‚ein Mann, ein Wort‘, nicht ‚ein Buch'“, das sagte mein Leichtathletiktrainer beim TSV Bayer 04 Leverkusen früher scherzhaft, wenn ich in den Tempolaufpausen mal wieder dasaß und „Die Pest“ von Albert Camus (den ich „Kamuß“ aussprach) las, Gedichte von Else Lasker-Schüler (weil: Elberfelderin) oder „Mond über Manhattan“ von Paul Auster (diese irrlichternde Pre-9/11-Faszination für New York). „Lesen kannst du dein ganzes Leben lang. Schreiben auch. Aber bei den Deutschen Meisterschaften kannst du nur jetzt antreten.“ im Jahr 2015, 19 Jahre später, muss ich zugeben, dass mein Trainer Recht hatte. Ich laufe ich immer weniger. Lese ich zu viel?Ich habe immer gelesen: Antiquariatsware, die Zwei-Mark-Jubiläumsbände von rororo (Pynchon, Updike, Musil), das Gesamtwerk von Charles Bukowski und bereits im Alter von elf Jahren einen Roman, den meine Eltern weggeschlossen hatten (es war vermutlich „Do-Jo“ oder „Oni“ von Marc Olden). Ich erinnere mich an die Anfangsszene. Ein Samurai schleicht in einen Pferdestahl, wo ein gerade geborenes Fohlen dampfend im Stroh liegt, mit schimmernd-feuchtem Fell. Der Samurai beugt sich hinab. Er streichelt das Fohlen. Er legt seinen Arm um das Fohlen. Und dann bricht er dem Tier das Genick.“Geil!“, dachte ich damals, vielleicht auch „wow“, denn es muss 1989 oder 1990 gewesen sein. „Das also ist Literatur?“ Welche Zeit hatte ich augenscheinlich verschwendet mit Enid Blyton, Astrid Lindgren, Otfried Preußler, von „Die Brüder Löwenherz“ und „Krabat“ einmal abgesehen? Ich schaute mich im Wohnzimmer des kleinen Reihenhauses meiner Eltern um und sah überall Bücher, eingeordnet in Eiche-Rustikal-Regalen, Taschenbücher und Bertelsmann-Clubausgaben, die aus billigem Papier hergestellt waren. Reader’s Digest hatten wir im Abonnement. Sogar eine Gesamtausgabe gab es: Karl May. Es fehlten zwei Bände.
Woran es mir nie fehlte: Bücher, Stifte und Papier. Bücher gab es massenhaft geschenkt, sie wurden in der Stadtbibliothek ausgeliehen oder vom Taschengeld günstig erworben in einer der vielen Buchhandlungen Wuppertals. Ich las, notierte und sortierte. Ich verfasste epigonales Zeug wie jeder Jugendliche, der Schriftsteller oder Kritiker werden will. – Das Literarische Quartett wurde gegründet, da war ich acht Jahre alt und Kritiker sein wird in solchen Augenblicken ein Wunschberuf, neben den ganzen anderen Optionen, die man sich als junger Schüler offen lässt: Meeresbiologe, Geheimagent, Spitzensportler. Wenn ich nachts mit dem Taschenradio im Bett lag, hörte ich Features, die Hitparaden und war jahrelang begeistertet vom „ZeitZeichen“ im WDR. Ich sah Kultursendungen, die von ARD und ZDFausgestrahlt wurden.
Daheim gab es die örtliche Tageszeitung und am Wochenende die BAMS, das Manager Magazin für den Vater, die Zeitschrift Tina für die Mutter und für uns Kinder den Tierfreund und manchmal eine Mickey Mouse. Langweiliges Zeug. Dagegen die Literatur: die war klasse. Weil meine Eltern Lektüre per se für bildungsrelevant hielten bekam ich alles geschenkt, was auf meinem Wunschzettel stand: das Opus Pistorum von Henry Miller, die Tagebücher von Anaïs Nin und weil ich damals zu jung war, um ins FSK-16-Kino zu gehen, auch die schlimmen „Buch zum Film„-Romane von Heyne, Goldmann, Bastei Lübbe nacherzählte Scripte platter Actionfilme mit Arnold Schwarzenegger und Bruce Willis.
Aber ich komme ins Plaudern. Es soll um die Literaturkritikdebatte gehen, eine von vielen Literaturkritikdebatten der vergangenen Jahre. Es soll nicht meine Begeisterung für die Literatur thematisiert werden. Nüchtern bleiben. Argumentieren. Von derartigen Diskursen ahnte ich Anfang der Neunziger nichts. Selbst das Wort Diskurs war mir unbekannt. Hätte man mir gesagt, im Jahr 2015 sei relevanter, wer mit wem angeblich Hirschbraten isst (wovon ich übrigens noch nie gehört habe) – ich wäre auf der Tartanbahn geblieben und hätte das 800-Meter-Rennen keinesfalls gegen die Kritik eingetauscht.
Schütte wünscht sich ein Netz-Äquivalent zu den Feuilletons, die immer weniger Platz für klassische Literaturkritik anbieten. Alexander Kluge will den Elfenbeinturm, nennt ihn aber Leuchtturm in der Wüste, eine Oase, weil das schöner klingt. Ehrlicher ist da Blogger Thomas Brasch, wenn er bekennt: „Deshalb befürworte ich die Club-Idee – und zwar in voller Konsequenz (…): elitär, selbstreferentiell und für Leute, die neben ein wenig Geld auch über den größten heutigen Luxus verfügen: Zeit und Muße.“
Dass es bereits die von Schütte gewünschte Literaturkritik gibt und dass man sich diese über die Facebook-Twitter-Goodreads-Timeline selbst zusammenstellen kann, haben Nikola Richter, Marcel Weiss und Thorsten Jantschek, Redakteur von Deutschlandradio Kultur, eindrucksvoll bewiesen. Der moderne Kritiker ist insbesondere für Jantschek nicht mehr Wahrheitssucher, der einem Celan-Gedicht den Sinnzusammenhang des Großen und Ganzen ablauscht. Der neue Kritiker ist vielmehr ein Bedeutungsspurenleser, der sich in ein literarisches Gespräch einzuschalten weiß. Der neue Kritiker verkündet nicht mehr ex cathedra sein Urteil (und bewegt sich damit in jener juristischen Tradition, aus der sich einst die germanistische Literaturwissenschaft herausgebildet hat). Der neue Kritiker erkennt Bezüge, kann Literatur decodieren, in neue Gegenwartszusammenhänge stellen, den Raum des Möglichen deuten, erweitern und für jene junge Zielgruppe öffnen, der das Feuilleton seit Jahren hinterher rennt.
Dem folgend ist mein eigener Blog angelegt, dessen Titel Lesen mit Links kein Hinweis auf meine politische Orientierung ist, sondern zeigen möchte, wie für mich ein moderner Umgang mit Literatur funktioniert. Das Internet gibt mir, dem Nicht-Bildungsbürgerkind, die Möglichkeit Texte zu enträtseln, mithilfe von Wikipedia, Suchmaschinen, durch Fragen, die ich bei Facebook poste, wie es viele andere auch machen. „Liebe Freunde, vielleicht weiß einer Bescheid?“ Lesen mit Links: ich muss im Netz viel weniger ausbuchstabieren. Wo der Zeitungsjournalist oder der Radiomann stets „Bundeskanzlerin Merkel“ sagen muss, da setze ich einen Link unter den Nachnamen. Wer Fragen und nie von „Merkel“ gehört hat, kann selbst nachsehen. Das Chefredakteursargument „ab hier versteht es der Leser nicht“, gehört im Netz der Vergangenheit an.
Links anklicken bedeutet aber nicht automatisch, dass man informiert ist. Der Weg zu Wissen und Bildung wird immer ein beschwerlicher sein. Ich habe in Buchhandlungen gejobbt und kleinere Lektoratssachen im Arco-Verlag übernommen, in Tageszeitungen Zwanzigzeiler über KiWi-Bücher geschrieben, manchmal auch eine halbe Seite in jenen Magazinen, die mich aufgenommen haben (nur für die Men’s Health durfte ich nicht rezensieren, sondern musste stattdessen einen Fachtext über Jogging schreiben). Ich habe als Jugendlicher Kindergottesdienste geleitet, weil sich unsere Gruppe jeden Mittwoch beim Pastor getroffen hat, wo es zwei Stunden lang Bibel-Exegese gab und ich erstmalig erfuhr, dass es einen „vierfachen Schriftsinn“ gibt. Dieses Spurenlesen, von dem Jantschek schreibt, ist uralt, das wissen wir alle und der studierte Philosoph ohnehin. Ein Miley-Cyrus-Zitat erkennen ist ganz fein. Aber selbst in einer Zeit, in der es schwierig ist, an den Universitäten ein klassisches Goethe-Seminar zu belegen, sollte der literarische Link zu den „Wahlverwandtschaften“ ebenfalls erkannt werden. Was wäre der Kritiker ohne die Werkzeuge der klassischen Hermeneutik? Wie lässt sich Helmut Kraussers neuer Roman „Alles ist gut“ ohne Heinrich Wittenwilers Bauernschwank „Der Ring“ verstehen? (Es geht schon, macht nur weniger Spaß.)
Vor über zehn Jahren bin ich mit einem Freund nach Düsseldorf gefahren, nachdem wir an der Pinnwand des Germanistischen Fachbereichs gelesen hatten, dass eine ehemalige Ärztin in Rente ihre Bibliothek verschenkt. Wir waren die ersten, die sich gemeldet hatten, ein halbes Jahr nachdem der Zettel ausgehängt worden war. Alle anderen Studenten hatten kein Interesse gehabt, waren achselzuckend an dem Angebot vorbeigegangen. In der damals geschenkten Kleist-Gesamtausgabe (Dünndruck, Leineneinband) lese ich heute noch.
Im Alter von 18 Jahren abonnierte ich die FAZ. Für mich war das Feuilleton ein Ausbruch aus der Karl-May-Enge daheim. Deshalb verteidige ich konservative Standards der Kritik und glaube, dass es nicht schaden kann, von Positivismus, Strukturalismus und auch der systemtheoretischen Beobachtungsweise gehört zu haben. Der „Tristan“ Gottfried von Straßburgs bleibt Text meines Herzens – da mag Jörg Sundermeier immer wieder die angeblich gesunkenen Standards der Kritik beklagen: ich bin nicht der Einzige, der mit seinen Textbeobachtungen mehr zu bezwecken sucht als das schnöde Einsammeln von Klicks, Likes und Favs. Wenn ich bei Jantschek etwas über die Deterritorialisierung der Kritik lese, dann freue ich mich, einst die „Tausend Plateaus“ gelesen zu haben und zugleich zu wissen, dass da draußen ein 16-Jähriger wie ich einst sitzt und durch eine Kritik des Deutschlandradios angelockt wird, den Kosmos Literatur weiter zu erkunden, bis er irgendwann bei Deleuze und Guattaris „Kriegsmaschinen“ angelangt ist. Ich bin mir sicher, dass es beides braucht, den ernst gemeinten Bildungsauftrag und den flott-subjektiven Blog, die Tweets zum Bachmannpreis, die Talks auf den Facebook-Timelines neben Netzangeboten wie IASLonline, wo Literaturwissenschaftler zwanzigseitige Rezensionen veröffentlichen. Alles, was angeblich fehlt ist längst da – die hohe Kritik und die niedrigere, die Publikationsorte und die lebhafte Debatte über Literatur.
Vieles ist anders als früher. Gewöhnt euch dran! Die Stadtbibliotheken machen dicht und sparen ihr Sortiment ein. Qualitätszeitungen veröffentlichen immer seltener Artikel wie jene, die mir damals den Einstieg in die literarische Bildungswelt ermöglichten. Jaja. Jetzt höre ich auch noch, dass irgendwo Hirschbraten gegessen wird und muss mich fragen, weshalb ich nicht eingeladen werde (obwohl wir alle genug zu essen bekommen auf den Messepartys, auch bei den Pressetreffen zur Vorstellung des neuen Verlagsprogramms, die man dann doch ausschlägt). Mein Futterneid ist antrainiert. Ich habe mehrere Brüder.
Ich möchte damit nur sagen, dass es vollkommen egal ist, wo Kritik stattfindet und dass es unwichtig ist, ob eine wie auch immer geartete Dachmarke die Berichterstattung einzäunt (sollte das von Schütte vorgeschlagene Digitalmagazin in Anlehnung zu Ray Bradburys Romanbetitelt werden, schlage ich ohnehin Fahrenheit 2577 vor – der Schmelzpunkt von Silicium). Es braucht weiterhin die FAZ und das Deutschlandradio Kultur, den Freitag und die Literaturhauslesungen, die Sendung „Druckfrisch“ im Fernsehen und Veranstaltungen wie das Wettlesen um den Bachmannpreis in Klagenfurt. Gleichzeitig braucht es machtferne und nicht vom Kapitalismus berührte Inseln, Ecken, Oasen, Elfenbeintürme und private Marktplätze, die einen stets daran erinnern, dass Literatur(kritik) mehr ist als Arbeit, Broterwerb, Wettkampf um den nächsten Preis, die kommende Pressereise, die Legitimation, sich beim LCB-Sommerfest neben diesen oder jenen Großkopferten zu stellen. Es braucht mehr von diesen Orten. Mein Ort heißt Lesen mit Links. Ich habe ihn als Absicherung gegen die Fährnisse des Kritikerdaseins angelegt. Lesen mit Links wird es selbst dann noch geben, wenn ich mein Geld als PR-Angestellter oder Softeisverkäufer verdienen muss. Keinesfalls braucht es deshalb eine weitere Institution, die im Netz Geld ausschüttet und meiner Begeisterung einen monetären Wert verleiht, die aus Lesen mit Links ein Produkt macht, das automatisch Erwartungen weckt (Regelmäßigkeit beispielsweise). Institutionen bündeln Macht und Macht bedeutet, dass am Ende nur über Hirschbraten diskutiert wird. Wie langweilig, geistlos und klein wird in solchen Situationen das, wofür wir brennen, immer schon gebrannt haben.