Wer einfache Antworten sucht, wird im Jahr 2015 tagtäglich bedient. „Es gibt zu viele Flüchtlinge?“ – Raus mit denen! „Neue Ideen kommen auf?“ – Weg damit! „Medien berichten über Neo-Nazis?“ – Das kann nur die Lügenpresse sein. Aber kommen wir so weiter? Es gibt seit vielen tausend Jahren eine Kunstform, die auf einfache Fragen komplexe Antworten gibt; nämlich die Literatur. Ein Zündfunk Generator mit den SchriftstellerInnen Ilija Trojanow, Nora Gomringer, Feridun Zaimoglu und Cornelia Travnicek (am heutigen Sonntag ab 22:05 Uhr in Bayern 2 und bereits jetzt hier im Vorab-Stream). Die Portraitbilder sind allesamt von Annika Kipper. Ein Interview mit der Literaturwissenschaftlerin Julia Abel gibt es hier, einen längeren Text über das neue Buch von Cornelia Tracvnicek hier.
Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi wurde einmal gefragt, gens denn der Hauptgedanke seiner gewaltigen Romans „Anna Karenina“ sei. Der Hintergrund der Frage war die Vorstellung, den Kern der Geschichte hätte man kürzer erzählen können. Doch Tolstoi antwortete, wollte er mit Worten all das sagen, was er durch den Roman ausgedrückt hatte, müsste er „Anna Karenina“ noch einmal schreiben. Die Botschaft ist klar. Literatur widersetzt sich Parolen. Trotzdem gibt es neuerdings in Deutschland Schriftsteller, die auf Parolen, die auf schnelle Schlagworte setzen:
„Inzwischen jedoch, geben sich die Ausländer, und damit sind zu 99,9 Prozent Moslems gemeint, ganz ungeniert; und blasen den Deutschen ganz unverblümt den Marsch.“ Das sagte der türkischstämmige Schriftsteller Akif Prinicci in seiner Skandalrede bei der Pegida-Demo in Dresden; am 19. Oktober diesen Jahres. Bekannt wurde Pirincci in den 80er Jahren mit Katzenkrimis. Thor Kunkel, mit etlichen Literaturpreisen ausgezeichnet, schreibt auf seiner Facebook-Seite: „Wie in anderen Ländern zuvor, vergreifen die Musels sich erstmal an den Frauen um die männliche Bevölkerung einzuschüchtern… Siehe Schweden, Dänemark etc. Die Frauen, die bisher unter die Räder gekommen sind, können sich bei Merkel bedanken.“ Gerade versucht Kunkel, seinen eigentlich verdammt guten Roman „Subs“ aus dem Jahr 2011 völkisch umzudeuten. Angeblich steht seine Ausbeutergeschichte um osteuropäische Sklaven in Deutschland sinnbildlich für die Bedrohung unseres Arbeitsmarktes durch illegale Einwanderer. (Ich hatte ihn für mein Feature via Facebook angefragt, doch Thor Kunkel hat nicht einmal geantwortet.)
„Wir Menschen haben Beine. Die Fähigkeit, uns von Ort zu Ort zu bewegen, gehört zu unserem Wesen und ist eine hilfreiche Eigenschaft, um uns den Lebensumständen anzupassen und sie zu verbessern“, schreibt Massimo Livi Bacci in seiner „Kurzen Geschichte der Migration“, die erinnert, in welcher Weise die Neuzeit des europäischen Kontinents vom Beginn der industriellen Revolution an gekennzeichnet war „von einer erhöhten Mobilität, sowohl über kürzere Entfernungen als auch über weite und sehr weite Distanzen.“ Den italienischen Professor möchte man auch zitieren, wenn es um die Anpassung von Migranten an das Fortpflanzungsverhalten des jeweiligen Landes geht, gezeigt am Beispiel der USA, wo noch 1920 die in Italien geborenen Frauen genau doppelt so viele Kinder zur Welt brachten wie die weißen US-Bürgerinnen. „1936 war die Anzahl der von den Italienerinnen geborenen Kinder unter die der Amerikanerinnen gesunken: 2,08 im Vergleich zu 2,14.“ Dennoch:
„Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen.“ Diese Worte schrieb der renommierte Dichter und Dramatiker Botho Strauß Anfang Oktober 2015 in seinem SPIEGEL-Essay: „Der letzte Deutsche“. Er behauptet, die Deutschen würden nun endgültig ihrer Souveränität beraubt. Stellenweise liest sich sein Text wie eine Rechtfertigung für Pegida-Demos und Brandanschläge auf Flüchtlingsheime, denn: „Der letzte Deutsche, dessen Empfinden und Gedenken verwurzelt ist in der geistigen Heroengeschichte von Hamann bis Jünger, von Jakob Böhme bis Nietzsche, von Klopstock bis Celan. Wer davon frei ist, wie die meisten ansässigen Deutschen, die Sozial-Deutschen, die nicht weniger entwurzelt sind als die Millionen Entwurzelten, die sich nun zu ihnen gesellen, der weiß nicht, was kultureller Schmerz sein kann.“
Da kann man durchaus fragen: Befindet sich die deutsche Literatur gerade in rechter Seitenlage? Keinesfalls. Oder genauer: Nicht generell. Es gibt viele Dichter und Denker, die mit nationalen Gedanken provozieren. Das sind die hier genannten Akif Pirnicci, Thor Kunkel und Botho Strauss. Dazu gehören aber auch Kollegen wie der erzkatholische Martin Mosebach oder der aktuell eher denkfaule Philosoph Rüdiger Safranski, der darauf pocht, die Verfassung stünde über dem Koran – als würde ISIS vor unseren Grenzen stehen.
„Ich denke, dass sehr sehr viele Dichterinnen und Dichter frei und welt- und herzverrückt an Büchern schreiben. Und wenn man die Bücher liest, dann weiß man, dass es sich um freie Geister handelt, und es muss endlich auch mal Schluss gemacht werden damit, dass man vom Kosmopolitismus spricht. Lust und gute Laune verbinde ich mit dem Deutschen. Verdammt noch mal!“ Das sagt Feridun Zaimoglu, der sich die Liebe an der deutschen Sprache nicht wegnehmen lassen will. Er ist einer dieser Schriftsteller, die auch nach Wurzeln suchen, die Fragen nach unserer Identität stellen, die sich auf Geistesgrößen berufen, und mehr leisten als dumpfe Hetzer, die hinnehmen, dass im Deutschland des Jahres 2015 Journalisten verfolgt, schwangere Frauen zusammengeschlagen, Flüchtlingsheime angezündet, die freien Geister einer freien Welt eingeschüchtert werden.
Feridun Zaimoglu ist einer der gewaltigsten und wortmächtigsten Erzähler unseres Landes. Gerade ist sein Istanbul-Roman „Siebentürmeviertel“ erschienen. Auf fast 800 Seiten wird die Geschichte eines Migranten erzählt – und zwar nicht die Geschichte eines Türken. „Siebentürmeviertel“ spielt im Jahr 1939 und erzählt von Wolf, einem deutschen Jungen, der mit seinem Vater aus Nazi-Deutschland geflohen ist. Wie „Junge Hunde“ von Cornelia Travnicek, so ist auch „Sieben-Türme-Viertel“ von Feridun Zaimoglu ein Roman über Identität, über das Ankommen in der Fremde, über eine gebrochene Biografie. Aber ist das ein deutscher Roman? Immerhin ist „Sieben-Türme-Viertel“ auf Deutsch geschrieben. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch sitzt in Köln. Feridun Zaimoglu wohnt in Kiel. Müsste man nicht eher, mit dem Fachgebiet von Literaturwissenschaftlerin Julia Abel sagen: „Siebentürmeviertel“ ist ein interkulturelles Kunstwerk?
Der Autor mag von diesen Einordnungen wenig wissen. „Ich warte auf das Jahr, an dem dieses ‚Interkultur‘ zum Unwort des Jahres erklärt wird. Es ist natürlich Pipifax“, sagt er im Interview. „Es ist ein Wort, ein Fremdwort, ein zusammengesetztes Wort, aus dem Soziologieseminar. Es kann nichts mit den wahren Verhältnissen zu tun haben. Das Leben ist stärker als jedes Fremdwort. In diesem Sinne kann ich nur darauf verweisen, dass sich ich mich nicht nur so fühle; Ich schreibe deutsche Geschichten; und Interkulturalität, dieser Fachbegriff aus der Arbeitswelt der Forscher, geht mich nichts an.“
Deutsch zu sein, als deutscher Schriftsteller zu gelten – das ist für Feridun Zaimoglu ein Kompliment. Schließlich habe er nicht in der Mongolei gelebt, sagt er. Hat er sich hier assimiliert? Definitiv. Er lässt sich auf die deutsche Weise aussprechen, obwohl das „g“ eigentlich nicht mitgesprochen werden sollte, so wie beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Doch Zaimoglu sagt, er gehörte nicht „zu diesen Nachnamenspießern.“ Er hat die Silbendehnungs-Markierung über dem „g“ bereits bei seinem Debüt „Kanak Sprach“ weggelassen.
Cornelia Travnicek ist eine deutschsprachige Schriftstellerin, allerdings aus Österreich und als studierte Sinologin dem Asiatischen zugewandt. Feridun Zaimoglu mag gebürtiger Türke sein, lebt aber seit über 30 Jahren im norddeutschen Kiel und schreibt deutsche Geschichten. Kollege Ilija Trojanow wiederum sagt: „Eigentlich bin ich ein deutschsprachiger Autor. Aber von meinem Selbstverständnis her eigentlich von Anfang an ein europäischer, eurasischer, ein Godwanalandautor.“ Nora Gomringer, die 2015 bei den „Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt“ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, ist Schweizerin und reist durch die halbe Weltgeschichte, um ihre (oder unsere?) Lyrik bekannt zu machen: „Die Lyriker dürfen viel reisen, weil ich glaube, Veranstaltungsmacher und vor allem Festivalmacher
legen ganz viel Wert darauf, dass eine Vielstimmigkeit präsentiert wird. Wenn also ein Festival in Mexiko ist findet man sechs, sieben Nationen vertreten, damit sechs, sieben verschiedene Sprachen, die dem Publikum ein Panoptikum zeitgenössischer Literatur, zeitgenössischer Lyrik vorstellen sollen. Ich habe also ein Flugticket und stehe am Gate und ich stehe da nur, weil ich Gedichte schreibe. Unglaublich.“ – In einer Welt, die längst zusammengewachsen ist, in einer Welt, in der die komplette Literatur für jedermann zugänglich, eingescannt, archiviert ist, in der die Übersetzungslage immer besser wird, in der wir uns mit jeder Kultur auseinandersetzen können
und sich deutsche Künstler von verschiedenen Kulturen anstecken lassen, wirken die Sehnsüchte eines Botho Strauß so gestrig wie der Roman „Das Blutbuchenfest“ von Martin Mosebach. – Der Zündfunk-Generator fragt nach neuen Konzepten der Beschreibung von Gegenwartsliteratur, besucht das Berliner Literaturhaus „Lettrétage“, wo das CROWD-Projekt nach neuen, paneuropäischen Wegen des Schreibens sucht. Es geht auf die Frankfurter Buchmesse, zur Universität Wuppertal, mit Geschichten in die Türkei, mit Ilija Trojanow (Bild links) nach Bulgarien und ins ferne China. Es wird eine Suche nach „Weltliteratur statt krachdeutscher Parolen“, damit von diesem deutschen Jahrzehnt mehr nachhallt als die „Widerstand, Widerstand“-Rufe der Pegida-Demos.
Massimo Livi Bacci: „Kurze Geschichte der Migration“, Wagenbach, 176 Seiten, 10,90 Euro / Nora Gomringer: „ach du je“, edition spoken script, in „Der gesunde Menschenversand“, 160 Seiten, 23 CHF / Nora Gomringer: „Ich bin doch nicht hier, um sie zu amüsieren“, Voland & Quist, 172 Seiten, 15,90 Euro / Cornelia Travnicek: „Junge Hunde“, DVA, 240 Seiten, 14,99 Euro / Ilija Trojanow: „Macht und Wiederstand“, Fischer, 482 Seiten, 24,99 Euro / Feridun Zaimoglu: „Siebentürmeviertel“, KiWi, 798 Seiten, 24,99 Euro