Ein 16-Jähriger irrt durch die U-Bahnschächte New Yorks. Ein dicker Dominikaner antwortet das Falsche im Zuckerrohrfeld und Sarah Kuttners Heldin ist depressiv. Die Bücher der Woche sind dunkel, heiß und wahnsinnig.
Lowboy ist sechzehn, paranoid schizophren und ohne seine Medikamente aus der Nervenheilanstalt ausgebrochen. Wie er da reingekommen ist? Angeblich hat Lowboy seine Freundin auf die U-Bahn-Gleise geschubst – Tatsächlich hat sich der Junge nur losgerissen, weil er nicht von ihr umarmt werden wollte. Das ist natürlich nicht weniger krank, dafür viel bemitleidenswerter. Denn jetzt irrt dieser Junge durchs U-Bahnnetz von New York, während seine nervöse Mum auf der Polizeiwache sitzt: „Mein Sohn wird nichts Unrechtes tun.“ Da ist Profiler Ali Lateef sich nicht so sicher. Gemeinsam brechen die zwei gegensätzlichen Erwachsenen auf, um jungen Mann einzufangen. Lateef erkennt allerdings viel zu spät entdecken, wer ihn hier exakt an der Nase herumführt. Das ist spannend, schnell – und irrsinnig komisch.
Die beste Szene gibt es unter Tage, nachdem die seltsame Rafa den Streuner Lowboy kennengelernt und vor der Polizei versteckt hat – und dann doch ein Officer zu ihr hinabschaut, durchs Gitter und sagt: „Riecht gut da unten, Rafa. Als ob du dir was gekocht hättest.“ – „Ich hab‘ Crack geraucht, Officer Martinez“, sagte Heather Covington fröhlich. „Irgendwie muss man sich ja die Zeit vertreiben.“ Und gerade Lowboy hat viel zeit, bevor die Geschichte zu Ende geht und seine Welt, „Fightclub“ nicht unähnlich, in Flammen aufgeht. Bis dahin will Lowboy, der „Retter der Welt“ (Rowohlt, 352 Seiten, 19,90 Euro), ausgerechnet den bösen Klimawandel stoppen, indem er geheime Botschaften befolgt, die schubweise sein kleines Teenagerhirn fluten. Ein Wettlauf zwischen der mütterlich-warmen Welt des Tageslichts und der kalten-vaterlosen Welt der ewigen U-Bahn-Nacht entwickelt sich zu einer mystischen Reise zu den verdrängten Ängsten Amerikas.
Der amerikanisch-österreichische Autor John Wray ist ein großer Könner, inspiriert von der frühen Phase Paul Austers („Die New York Trilogie“) – mit seinem Vorbild auf Augenhöhe. Der 1971 geborene Mann ist ein wahres Phänomen. Er ist zweisprachig aufgewachsen, spricht Deutsch mit einem wunderbaren österreichisch-amerikanischen Akzent, geht mit Haruki Murakami („Naokos Lächeln“) in Brooklyn Jazzplatten kaufen und singt selbst in Karaoke-Bars: „Die frühe Phase von David Bowie habe ich ganz gut drauf.“ John hat in Wien studiert – „Anglistik, weil ich es mir einfach machen wollte“, dort die Programmkinos unsicher gemacht, anscheinend ganz genau hingesehen, wie man gute Geschichten aufbaut und für sich erkannt: „Ich kann nur Romane schreiben.“ Aber das kann John Wray tatsächlich brillant. „Retter der Welt“ ist ein großes, aufregendes, ungemein lebendiges Buch.
Jenseits von Jedem
Sieben Literaturauszeichnungen, darunter den renommierten Pulitzerpreis hat Star-Autor Junot Diaz für seinen Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ verliehen bekommen. „Mir fällt kein Roman in letzter Zeit ein, der diesem das Wasser reichen würde“, sagt Nick Hornby („High Fidelity“, „Slam“) und die New York Times schwärmt von einer „der unwiderstehlichsten Stimmen der Gegenwart.“ Sogar Vergleiche mit Kanye West musste sich dieses Buch gefallen lassen – vielleicht weil ein paar Kraftausdrücke vorkommen. In der Übersetzung von Eva Kemper ist jedenfalls kein HipHop-Einfluss nachweisbar (als der Roman 2008 erschien, war Kanye West noch eine Art Rapper), was seine Durchschlagkraft keinesfalls schmälert. Junot Diaz‘ Erzähler berichtet von einem verfluchten Leben, vom absolut trostlos verpfuschten Dasein des Super-Loosers Oscar Wao.
Seine Familie leben als Einwanderer in New Jersey, dem amerikanischen Fluch (fukú americanus) in ihrer Heimat, der Dominikanischen Republik entflohen. Während Oscar als dicker Außenseiter im Kreis seiner Machokameraden aufwächst – hier dem Aussenseiter-Oscar aus Günther Grass‘ „Die Blechtrommel“ nicht unähnlich – zieht Unheil am Horizont hinauf. Der Manga-Freak und Damenschreck verknallt sich in die falschen Frauen, legt sich mit düsteren Gangstern an („Unser Knabe war kein Ringgeist, aber er war auch kein Ork.“) und landet in seinem Heimatland gleich mehrmals im Zuckerrohrfeld, wo er übelst verdroschen wird. Die Geschichte dieses Oscars wird selten direkt, sondern immer über die Geschichte anderer Weggefährten erzählt, der Held des Buch wirkt wie ein schwarzes Loch, das man ebenfalls nicht sehen, aber mithilfe der Bewegungen seiner Nachbarsterne und -planeten finden kann. So erfährt man eine Menge über die (finstere) dominikanische Geschichte der vergangenen Jahrzehnte, über das Leben als Ausgestoßener in den USA und warum man in manchen Momenten die Klappe halten sollte, obwohl man die richtige Antwort weiß.
Testament der Angst
„Meine Therapiestunden frustrieren mich. Ich bin das ganze Gerede über mich und meine Ängste langsam satt.“ Weil Sarah Kuttners Debütroman „Mängelexemplar“ (Fischer-Verlag, 14,95 Euro) gelungen ist, muss allein Heldin Karo solche Sätze denken. Wer das 260 Seiten dicke Taschenbuch liest, wird seltsamerweise glücklich – obwohl die Heldin depressiv ist, obwohl Karo gerade ihren Freund Philipp verlassen und einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Nach der letzten Panikattacke hat Karo noch ein Hörspiel angemacht, „um abgelenkt einschlafen zu können.“ Das hilft dieses Mal nicht.
Sie ruft bei Lieblingskumpel Nelson an und weint: „Kannst du vielleicht schon ein bisschen früher kommen? Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht.“ Nelson bringt Karo in ein Krankenhaus. Danach geht es zur Kur, in der Mama-Pension, was erst einmal nett klingt, aber gleichzeitig Konfrontationen mit der vergessenen, verdrängten Kindheit beschert. Bis ein neuer Mann auftaucht. Und danach noch einer, das „Mängelexemplar“ trösten. Die 29-jährige Berlinerin Sarah Kuttner hat nach ihrer Zeit als VIVA- und MTV-Moderatorin für die ARD gearbeitet und Kolumnen für die Süddeutsche Zeitung und den Musikexpress geschrieben. Diese sind als „Das oblatendünne Eis des halben Zweidrittelwissens“ und „Die anstrengende Daueranwesenheit der Gegenwart“ erschienen. „Mängelexemplar“ ist ihr erster Roman, ein frühlingshaft leichtes Buch, das die anstrengende Daueranwesenheit der Gegenwart auf die Spitze treibt, bis die niedlich verwirrte Heldin in zwei Herzen einziehen darf – eines davon ist das Herz der Leser. So viel kann verraten werden.
[…] sind hinzugekommen: Martin “Gotti” Gottschilds neues Buch “Dia-Abend” und Sarah Kuttner, John Wray, Junot Diaz, (ich fülle weiterhin das […]